Crescendo
umkehren.
Wendy verpasste ihre Ausfahrt, nicht absichtlich, aber sie zischte vorbei, als sie gerade einen Lastwagen überholte. An der nächsten Raststätte hielt sie an und schaltete das Radio ein, einen Lokalsender mit viel Musik. Sie brauchte Ablenkung, damit sich ihre Gedanken nicht immer weiter überschlugen.
Sie hatte sich gerade einen Becher Kaffee geholt und trank ihn, als die Nachrichten kamen. Die Hauptmeldung war der Mord an einer jungen Frau in Telford. Wendy spürte, wie die Säure des Kaffees ihren Magen schockte, noch ehe sie seinen Namen hörte.
»Die Polizei bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der 517
Fahndung nach David Smith. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, einen Meter dreiundachtzig groß, schlank und hat blaue Augen. Möglicherweise hat er Verletzungen an den Händen und im Gesicht. Sachdienliche Hinweise nimmt die Polizei in Telford entgegen …«
Die Stimme sprach weiter, aber Wendy hörte nicht mehr zu. Sie stand über einen Abfalleimer gebeugt und erbrach Galle und Kaffee.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«
Ein freundlich aussehender Mann Mitte fünfzig stand neben ihr.
»Geht schon wieder.« Sie strich sich mit einer zitternden Hand übers Gesicht.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus. Können Sie denn noch fahren? Ich könnte sie mitnehmen.«
»Nein, wirklich nicht. Im komme schon klar.«
Wendy ging zum Auto zurück, schüttelte die unerwünschten Aufmerksamkeiten des Mannes ab. Wahrscheinlich meinte er es nur gut, aber sie traute ihm nicht. Eigentlich traute sie niemandem. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Dave hatte sie mitten in der Nacht angerufen und ihr gesagt, wo sie ihn abholen sollte. Er hatte gesagt, es sei dringend, aber seine Stimme hatte nicht so geklungen, als sei etwas nicht in Ordnung. Und jetzt das. Die Polizei suchte ihn im Zusammenhang mit der Ermordung einer jungen Frau.
Sie fing an zu weinen, dicke Tränen tropften von ihren Wangen auf die Jeans, aber sie gab keinen Laut von sich. Ge-räuschloses Weinen war ein Trick, den sie schon als Kind gelernt hatte. Das letzte Mal, dass sie laut geheult hatte, war nach der zweiten Abtreibung gewesen, die so furchtbar dane-bengegangen war.
Ihr Vater hatte sie so verprügelt wie noch nie in ihrem 518
Leben, als sie endlich aus dem Krankenhaus nach Hause durfte, steril und vernarbt. Er hatte die Wahrheit aus ihr heraus-gedroschen, und es war zu einem schrecklichen Krach mit Dave und seinen Eltern gekommen. Ihr Dad wollte unbedingt zur Polizei gehen. Sie war noch minderjährig, und er wollte seine Rache. Ihre Mutter hatte bloß immer die Gläser nachgefüllt. Irgendwie hatte Daves Vater ihren Dad davon abbringen können, Anzeige zu erstatten. Die beiden waren in ein anderes Zimmer gegangen und hatten ewig lange miteinander geredet, und als sie wieder rauskamen, war das Thema Polizei vom Tisch. Ein Jahr später hatte sie Telford verlassen, um auf die Schwesternschule zu gehen, und seitdem war sie nicht mehr zu Hause gewesen.
Hör auf damit! Sie schlug sich mit geballten Fäusten gegen die Schläfen, damit ihr Kopf nicht von der Vergangenheit überwältigt wurde. Na bitte, sie war wieder ruhig, hatte sich fast wieder im Griff. Als sie das Auto abschloss, zitterten ihre Hände kaum. An einer Seite der Raststätte standen ein paar Telefonzellen. Sie sagte sich, wenn keine benutzt wurde, wä-
re das ein Zeichen, dass sie die Polizei anrufen sollte. Sie waren alle leer, also zwang sie sich, die Nummer in Telford zu wählen, die im Radio durchgegeben worden war. Vielleicht war die Polizei dort ja freundlicher. Der Mann am anderen Ende klang gelangweilt, aber als sie sagte, sie habe möglicherweise Informationen zu David Smith, änderte sich sein Tonfall und wurde aufgeregt. Als sie das merkte, bekam sie es wieder mit der Angst zu tun, und sie bestand darauf, mit einer Frau zu sprechen.
»Die Kolleginnen, die an dem Fall arbeiten, sind alle unterwegs. Können Sie denn wirklich nicht mit mir reden?«
»Nein!« Sie schrie ihn fast an.
»Bleiben Sie dran.« Sie hörte, wie er den Hörer hinlegte 519
und laut rief: »Robyn, hast du mal ’ne Sekunde Zeit? Da ist eine am Telefon, die sagt, sie wüsste was zu Smith, will aber nur mit ’ner Frau reden.«
»Hallo? Hier ist Constable Robyn Powell, wer spricht da?«
»Mein Name spielt keine Rolle.« Aber sie hatte immer noch den Telforder Akzent, und sie hatte nicht daran gedacht, ihre Stimme zu verstellen.
»Wendy, sind Sie das?« Die Frau wusste Ihren
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