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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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Hause im wahrsten Sinne des Wortes weggelaufen war. Die Polizei brachte sie zwar zurück, doch sie riss immer wieder aus, bis sie irgendwann von einer Polizistin so beeindruckt gewesen war, dass sie sich in den Kopf gesetzt hatte, so zu werden wie sie. Doch das Laufen hatte sie bis jetzt beibehalten. Sie war sogar an dem Morgen joggen gegangen, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Eltern erhielt.

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    Doch heute war es anders. Sie wollte nicht wie üblich im Park laufen und entschied sich für die lange Strecke durch den Wald, wo sie nur zu besonderen Gelegenheiten joggte.
    Heute würde sie einen letzten Versuch unternehmen, sich von der Paranoia, die sie zu verzehren drohte, und von den zwanghaften Verhaltensweisen zu befreien, die sie zwar genau erkannte, aber einfach nicht in den Griff bekam. Jeder physi-sche Bestandteil ihres Lebens wurde rigoros gebändigt, nur ihr Verstand war heillos außer Kontrolle.
    Drei Stunden später waren Nightingales Laufschuhe mit Staub bedeckt. Das T-Shirt klebte ihr am Rücken, sodass sich die Konturen des Sport-BHs abzeichneten, und das schweiß-
    nasse Haar umrahmte ein Gesicht, dessen Muskeln vor Erschöpfung angespannt waren. Ein ermogelter freier Tag war zu einem Belastungstest ausgeartet.
    Im länger werdenden Schatten einer riesigen Eiche saugte sie die letzten Tropfen Wasser aus der Flasche an ihrem Gürtel. Das Rascheln der Blätter um sie herum klang wie Schritte, die sie verfolgten, doch sie verbannte den Gedanken aus dem Kopf, indem sie sich sagte, dass sie hier sicherer war als sonst wo. Sie blickte widerstrebend auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie den langen Weg zurück zum Auto lief und nach Hause fuhr. Der Gedanke daran durchfuhr sie schneidender als ein Messer, und sie trieb sich weiter an.
    Als sie ihren Lieblingsbaum erreichte, blieb sie endlich stehen und sog gierig die Luft ein. Sie war sehr weit vom Auto weg. Es war Irrsinn, so tief in den Wald hineinzulaufen, bis sie nicht mehr konnte, aber sie war ihren Gedanken noch nicht entkommen, nicht einmal durch das stumpfsinnige Zählen ihrer Schritte. Sie beugte sich vor, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, und ließ den Kopf hängen, sah die Blätter vom Vorjahr, die auf der festen Erde unter dem Baum 76

    lagen. Schweißtropfen besprenkelten das staubige Laub und ließen die zarten, skelettartigen Blattadern hervortreten. Als diese Blätter gefallen waren, hatten ihre Eltern noch gelebt.
    Ein Schluchzen entfuhr ihr. Sie legte die Hände auf die Lippen, als wollte sie das Geräusch hinunterschlucken, aber es ging nicht. Ein Schrei brach aus ihr heraus, und Tränen ver-mischten sich mit dem Schweiß, den ihr Körper verströmte.
    Die Laute gingen ineinander über, wurden zu einem anhal-tenden Heulen. Die Beine knickten unter ihr ein, und sie sackte zu Boden, hielt sich ganz fest den Kopf, als könnte sie das wehe Gefühl zurückdrängen, das tief aus ihrem Innern hervorsprudelte. Stattdessen spürte sie, wie sich ein Gegen-druck gegen den Schädelknochen aufbaute und ihr die Lunge im Brustkorb zusammenpresste, sodass sie keuchend nach Atem rang.
    Das Weinen hatte weder Ursprung noch Ziel, es war einfach da. Welle für Welle tobte durch sie hindurch und aus ihr heraus, schaukelte ihren Körper in einem eigentümlichen Rhythmus vor und zurück. Irgendwann wurde das Weinen leiser, und dann hörten die Tränen auf. Sie nahm die Hände vom Kopf und sah auf ihre Finger. Sie waren blutleer von dem Druck, den sie auf sie ausgeübt hatte. Sie blickte auf den Ring an ihrer rechten Hand, dachte an das Weihnachten, an dem sie ihn geschenkt bekommen hatte, und spürte, wie sich bei der Erinnerung wieder ein Schluchzen bildete. Die Trä-
    nen kehrten zurück, und in dem vergeblichen Versuch, sie zu stoppen, biss sie sich fest auf die Zunge. Die nächste Trauer-welle traf sie, sanfter, aber irgendwie tiefer und schmerzlicher, ohne einen Funken Hoffnung.
    Sie spürte im Boden unter sich eine Vibration, die zu laufenden Schritten wurde, und als sie aufblickte, sah sie zwei Kinder, die sie neugierig anstarrten. Sie konnte die Gesichter 77

    nicht erkennen, weil ihre Augen vom hemmungslosen Weinen verquollen waren, aber sie sah, dass die beiden kurze Hosen und Gummistiefel trugen. Schlagartig sah sie ein weiteres Bild aus ihrer Kindheit vor sich. Sie und Simon hatten das Gleiche getragen. Es gab Schlangen im Wald, und Gummistiefel waren sicherer als Sandalen.
    »Mir geht’s gut«, sagte sie heiser. »Wirklich«, aber die

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