Crescendo
wenn sie wollen.« »Ich glaube, sie wollen.« »Das glaube ich auch.«
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Kapitel fünf
Als das Telefon klingelte, tat sie so, als wäre sie nicht zusammengefahren.
»Hallo?«
»Sergeant Nightingale? Hier spricht Dr. Batchelor. Wir hatten noch nicht das Vergnügen, aber ich würde mich freuen, wenn Sie etwas Zeit für mich erübrigen könnten. Ich bin Gefängnispsychiater. Mr Griffiths ist mein Patient.«
Als Griffiths’ Name fiel, lehnte Nightingale sich gegen die Wand und ließ sich nach unten rutschen, bis sie auf dem kühlen Holzboden saß.
»Ich hätte da ein paar Fragen … Sind Sie noch dran?«
»Ja.« Ihre Stimme war heiser, und sie hustete. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann.«
»Ich weiß, es ist ein wenig ungewöhnlich …«
»Ein wenig!«
»Aber Sie haben monatelang mit Wayne per E-Mail kor-respondiert.«
»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn näher kenne oder dass ich über ihn Erkenntnisse gewonnen habe, die für Sie interessant wären.« Sie kreuzte die Finger bei der Lüge.
»Ein Treffen wäre gegen die Vorschrift und für Sie und mich reine Zeitverschwendung.«
»Dann am Telefon.«
»Nein, Doctor. Ich möchte das wirklich nicht. Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«
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»Es könnte Ihnen gut tun.«
»Ich muss jetzt auflegen. Auf Wiederhören.«
Sie legte den Hörer auf die Gabel und stützte den Kopf in die Hände. Der ganze Nachmittag lag vor ihr wie ein Tier auf der Lauer.
Sie fühlte sich in der Wohnung wie in einer Falle, doch wenn sie nach draußen ging, hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Es war idiotisch, ein weiteres Anzeichen der Paranoia, vor der ihre Therapeutin sie gewarnt hatte, aber es ver-unsicherte sie dennoch.
Nacht für Nacht wurde sie von schrecklichen Albträumen heimgesucht. Im letzten kniete sie vor Griffiths, wie eine de-mütig Betende, das Gesicht in Höhe seines Nabels, dann zwang er sie, sich nackt auszuziehen. Sie war kurz nach Mitternacht zitternd aus dem Traum erwacht. Als sie nach zwei Tassen Kräutertee wieder eingeschlafen war, träumte sie, in einer Gosse zu knien, Griffiths stand nackt vor ihr, die Arme ausgebreitet, wie bei einer Kreuzigung. Sie sah das Messer erst, als er es in einem raschen Bogen senkte und ihr vor die Augen hielt. Langsam zwang er ihr den Mund auf und schob die Klinge hinein, ließ sie auf der Zunge liegen wie eine Hostie. Er drückte ihr die Lippen zu und zog dann die Klinge schnell heraus. Die scharfe Schneide schnitt in ihr Fleisch, und sie schmeckte Blut im Mund.
Der Eisengeschmack war noch da gewesen, als sie wach wurde. Sie hatte die Hand ans Gesicht gehoben, und sie war voller Blut. Benommen hatte sie sich im Zimmer nach einem Eindringling umgesehen. Erst als sie sich im Badezimmer das Gesicht waschen wollte, sah sie, dass sie Nasenbluten hatte.
Sie hatte vor Wut über die verräterische Schwäche ihres Körpers aufgeschrien und fluchend den blutbefleckten Kopfkis-senbezug und die verschwitzten Laken gewechselt. Im Mor-74
gengrauen war sie in einen schwarzen Schlummer gefallen, aus dem sie drei Stunden später wie gerädert erwachte.
Sie hatte sich krank gemeldet, eine Lüge, die sie nicht schön fand, aber der Gedanke, zur Arbeit zu fahren, war noch schlimmer als die Vorstellung, zu Hause zu bleiben. Das Telefon ließ sie zur Strafe eingestöpselt, und noch vor zehn Uhr erhielt sie drei Anrufe, ohne dass sich jemand meldete. Es zermürbte sie. Nachdem sie die Anrufe anfänglich als kindi-sche Streiche abgetan hatte, war sie jetzt überzeugt, dass eine böse Absicht dahinter steckte. Da sie es zu Hause nicht mehr aushielt, vereinbarte sie einen Friseurtermin und schlug die Zeit bis dahin mit dem Einkaufen von Dingen tot, die sie nicht brauchte.
Sie hatte dem Friseur gesagt, er solle radikal vorgehen, es müsse nicht modisch sein, Hauptsache pflegeleicht. Er nannte das Ergebnis knabenhaft. Sie fand, sie sah aus wie eine gescho-rene Johanna von Orléans, bereit für den Kampf oder den Scheiterhaufen. Mit dem jähen Vorsatz, sich gesund zu ernähren, ging sie mittags in ein vegetarisches Restaurant, doch als die Quiche und der Salat kamen, hatte sie keinen Appetit mehr und rührte so gut wie nichts an. Wieder zu Hause, trank sie einen Energydrink, ignorierte das blinkende Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter und beschloss, laufen zu gehen.
Das Joggen war ursprünglich eine Fluchtmöglichkeit für sie gewesen, als sie mit ihren wenigen Habseligkeiten in einem Rucksack von zu
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