Crescendo
Umstände. Ich schaff das schon allein.«
80
»Kommt gar nicht in Frage. Christopher, wenn wir sofort fahren, haben wir noch Zeit, auf dem Nachhauseweg ein Eis zu essen.«
Chris strahlte sofort übers ganze Gesicht. Nightingale seufzte schwer und zuckte die Achseln. Fenwick war zu geschickt, um eine schwache Sekunde ungenutzt verstreichen zu lassen, und half ihr auf die Beine. Die Kinder liefen voraus, und Fenwick passte sich Nightingales langsamem Schritt an.
»Möchten Sie drüber reden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Manchmal hilft es, so schwer einem der Anfang auch fällt.«
»Lieber nicht.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her, ihre Schritte synchron, das Rascheln ihrer Füße auf dem Laub im gleichen Rhythmus. Fenwick warf einen Blick auf ihr Gesicht, während sie auf den Boden vor ihren Füßen blickte. Sie wirkte angeschlagen und erschöpft. Ihre Verletzlichkeit rührte ihn, und er spürte, wie sich seine Kehle schmerzhaft zusammen-schnürte. Er hatte sie noch nie so gesehen. Bei der Arbeit war sie knallhart und zuverlässig, so sachlich und kühl. Ihre emotionale Aufgewühltheit überraschte ihn.
Er fing an, über den Wald zu sprechen, durch den sie gingen, genau so, wie er mit Chris und Bess geredet hätte. Seine Worte waren sorgsam gewählt, seine Sätze gewürzt mit Anekdoten und Legenden, während er ihr von kuriosen und geheimnisvollen Dingen erzählte.
Sie gelangten an einen Bach, in dem die Kinder spielten.
»… Und hier hat ein bedeutender viktorianischer Gentleman angeblich Feen gesehen, das hat er zumindest auf die Bibel geschworen.«
»Glauben Sie an Feen?«, fragte Bess unvermittelt.
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Nightingale blickte sie verwirrt an. Der Hauch eines Lä-
chelns spielte um ihre Lippen.
»Du denn?«
»Ich hab zuerst gefragt.«
»Vielleicht glaub ich dran. Könnte ja sein, dass es welche gibt. Wer weiß?«
Die Antwort schien Bess zu gefallen.
»Ist bei mir genauso. Glauben Sie dann auch an Geister?«
Nightingale rutschte auf einem moosbewachsenen Stein am Ufer aus, und Fenwick hielt sie am Arm fest, damit sie nicht stürzte. Als sie auf der anderen Seite des Bachs waren, wartete er, dass sie sich ihm entzog, aber sie machte keine Anstalten, und er ließ seine Hand, wo sie war.
»Ich finde, wir sollten jetzt nicht über Geister sprechen, Bess. Das ist kein gutes Thema, wenn jemand traurig ist.«
»Warum sind Sie traurig?«
Fenwick warf Bess einen entnervten Blick zu, aber sie achtete nicht auf ihn, und zu seiner Überraschung antwortete Nightingale.
»Ich bin traurig, weil ich zwei Menschen verloren habe und sie vermisse.«
»Sind sie tot?« Bess’ Stimme hatte sich zu einem Flüsterton gesenkt. Chris hörte aufmerksam zu.
»Ja.«
»Hatten Sie sie lieb?«
Nightingale holte tief Luft, und Fenwick betrachtete sie mit neuer Sorge, aber sie schien sich im Griff zu haben.
»Ja.«
»Das ist wirklich traurig.« Bess ging auf die andere Seite von Nightingale und nahm ihre Hand. Chris ergriff die seines Vaters, und zu viert gingen sie schweigend weiter, miteinander verbunden, bis sie zu Fenwicks Wagen kamen.
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»So, ihr zwei, rein mit euch. Vorher Stiefel aus. Nein, Chris … nicht in die Pfütze … Ich hätt’s mir denken können.« Er hob seinen Sohn hoch, weg von weiteren Versuchungen, und zog ihm die Stiefel aus.
»Kann sie noch mit zu uns kommen?« Es war eine seltsame Frage von seinem distanzierten und reservierten Sohn.
»Sie hat auch einen Namen. Die Dame heißt Sergeant Nightingale, und sie möchte bestimmt nach Hause.«
»Louise.« Alle drei starrten sie an. »Sagt Louise zu mir.«
»Kann Louise noch mit zu uns? Nur zum Tee, Daddy?«
Bess war so hartnäckig wie ihr Bruder.
Fenwick flüchtete sich in das umständliche Einpacken und Verstauen der Stiefel. Es wäre völlig falsch. Für ihn gab es eine klare Trennlinie zwischen Arbeit und Privatleben, erst recht, was die Kinder anging. Doch die Vorstellung, Nightingale in diesem Zustand allein nach Haus zu schicken, behagte ihm gar nicht. Sie ersparte ihm eine Antwort.
»Das ist sehr lieb von euch beiden, aber ich muss nach Hause. Vielleicht ein andermal, wenn ich besser aufgelegt bin.«
»Versprochen?« Chris blickte ernst, und Fenwick hätte sie am liebsten gewarnt, dass ein Versprechen, das man seinen Kindern gab, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war.
»Ja, wenn euer Daddy sagt, dass es passt.«
Er fuhr sie um den Wald herum zu ihrem Wagen und sah zu, wie sie die Tür entriegelte.
»Kommen Sie
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