Crescendo
Halbmonde unter den Augen waren die einzige Farbe in ihrem Gesicht.
Obwohl sie wie immer ordentlich und adrett wirkte, war ihr Haar stumpf, und die Kleidung schlotterte ihr am Körper.
Sergeant Cooper hatte sie zweimal besucht, während sie sich auskurierte, und ihr das Beste gebracht, was die Küche seiner Frau zu bieten hatte. Er hatte seine tiefe Besorgnis nicht in einen offiziellen Bericht gekleidet, sondern in privaten Gesprächen unter Kollegen geäußert, und schließlich 137
waren seine Befürchtungen auch dem Superintendent zu Ohren gekommen. Cooper hatte erzählt, dass Nightingale die ganze Woche allein gewesen sei. Ihre einzige Gesellschaft sei eine streunende Katze gewesen, in deren Maul, so Coopers Verdacht, die meisten Fleischpasteten seiner Frau gelandet seien.
Nightingale brauchte eine radikale Veränderung. Die Versetzung, die er vorschlagen wollte, wäre genau das Richtige für sie.
»Sind Sie auch wirklich wieder ganz auf dem Damm, Louise?«
»Vollkommen, Sir. Ich hätte schon am Montag wieder gearbeitet, wenn der Arzt nicht so ein Feigling gewesen wä-
re.« In ihrer Stimme lag eine ungewohnte Härte.
»Verstehe«, Quinlan runzelte die Stirn, »wenn das so ist, spricht ja wohl nichts dagegen, die längst fällige Unterhaltung über Ihre weitere Zukunft zu führen. Wie ich schon bei unserem letzten Gespräch sagte, steht Ihrer Karriere nicht das Geringste im Weg, aber eine Versetzung wäre ausgesprochen empfehlenswert. Es gibt da zwei offene Stellen, über die Sie nachdenken sollten.«
Nightingale öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Quinlan hob die Hand und sprach weiter.
»Zufällig kenne ich die Chief Constable in Leeds, und ich könnte ein Wort für Sie einlegen. Sie gilt als äußerst kompe-tent und leitet eine ausgezeichnete Truppe. Sie würden gut dorthin passen.«
Sie konnte sich nicht länger beherrschen.
»Aber, Sir, ich will nicht versetzt werden. Ich fühle mich hier sehr wohl.«
»Sie können nicht ewig in Harlden bleiben.«
Aber Nightingale war nicht zur Einsicht zu bringen. Sie 138
widersprach mit einer Leidenschaft, die Fenwick ihr gar nicht zugetraut hätte. Er sah, dass Quinlan allmählich ärgerlich wurde, und merkte, dass Nightingale anscheinend nicht klar war, dass es sich nicht um einen diskutierbaren »Vorschlag«
handelte. Sie war dabei, mit ihrer Halsstarrigkeit einen ein-flussreichen Vorgesetzten vor den Kopf zu stoßen, und er hielt es für besser, einzugreifen.
»Nightingale«, er konnte sich nicht dazu durchringen, sie Louise zu nennen, das kam ihm unnatürlich vor, »Sie sehen das nicht ganz richtig. Das hier ist keine Diskussion. Es wird Zeit, dass Sie Harlden verlassen.«
Sie sah ihn an, als habe er sie geohrfeigt. Leuchtend rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, und einen fürchterli-chen Moment lang dachte er, sie würde in Tränen ausbrechen.
Sie stand auf, die Augen auf ihn gerichtet, das Gesicht starr.
»Ich verstehe. Wenn das so ist, werden Sie mich entschuldigen.« Sie ging aus dem Zimmer, ohne die Erlaubnis abzu-warten. Fenwick sprang auf.
»Nightingale!« Sie hielt nicht mal einen Moment inne.
»Lassen Sie’s gut sein, Andrew. Weiß der Himmel, was in sie gefahren ist. Je eher sie wieder in eine normale Umgebung kommt und nicht mehr mutterseelenallein vor sich hin grü-
belt, umso besser. Weiber!«
Fenwick zog die Augenbrauen hoch, und Quinlan lachte.
»Ich weiß. So was darf ich heutzutage nicht mehr sagen, aber glauben Sie mir, sie sind eine Spezies für sich.«
»Tja, ich will weiß Gott nicht behaupten, dass ich sie verstehe, aber irgendwas stimmt da nicht.«
»Für mich liegt der Fall auf der Hand: Sie hat ihre Eltern verloren, wäre fast einem Serienvergewaltiger zum Opfer gefallen und dann passiert auch noch die Sache mit den Jugendlichen, ausgerechnet, wo für sie alles wieder halbwegs 139
normal läuft. Ach, und sie hat keinen Freund. Ein netter Mann würde ihr schon die Flausen austreiben.«
»Du lieber Himmel, Sir. Passen Sie auf, was Sie sagen.
Und außerdem«, Fenwick runzelte nachdenklich die Stirn,
»kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen. Eine so attraktive Frau wie Nightingale hat doch bestimmt an jedem Finger zehn. Wieso ist sie allein?«
»Was weiß ich. Ich sag ja, Weiber, aus denen wird keiner schlau.«
Nightingale starrte auf das verkratzte Holz ihres ramponierten Schreibtisches und versuchte angestrengt, einen klaren Gedanken zu fassen. Man – er – wollte sie nicht mehr in Harlden
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