Cromwell, Bernard
Himmel stand nur eine
schmale Sichel von einem Mond, der die Stoppeln erhellte. »Sei jetzt ganz
leise«, wisperte Kilda, »denn wenn sie uns entdecken, werden sie uns töten.«
»Wenn uns wer entdeckt?«
»Still!«, ermahnte sie ihn, dann kletterten die beiden
unter dem finsteren Blick der Wolfsschädel die steile Kreideböschung des
Tempelwalls empor. Kilda erreichte die Krone des Walls als Erste und legte sich
flach auf den Bauch. Saban ließ sich neben sie fallen.
Anfangs konnte er nichts Auffälliges in dem riesigen
Tempel entdecken. Das große Feuer brannte in der Nähe von Aurennas Hütte, und
seine hoch auflodernden Flammen warfen die Schatten der Steinpfeiler auf die
innere Böschung des Kreidewalls. Die Rauchwolke des Feuers, ihre Unterseite
durch den Widerschein der Feuer in der Siedlung rötlich gefärbt, stieg langsam
zu den Sternen auf. »Dein Bruder ist heute Nachmittag nach Cathallo gekommen«,
flüsterte Kilda Saban ins Ohr und zeigte dann auf die gegenüberliegende Seite
des Tempels, wo sich jetzt ein schwarzer Schatten von einem Felsblock löste.
Das war eindeutig Camaban; denn selbst auf diese
Entfernung und trotz der Verkleidung eines Bullentänzers konnte Saban
erkennen, dass die Gestalt leicht hinkte. Das lange Fell hing von Camabans
Schultern herab, der Bullenschädel wippte auf seinem Kopf auf und nieder,
während die Hufe und der Schwanz des toten Tieres auf dem Boden schleiften.
Der Bullenmann vollführte einen hinkenden, unbeholfenen Tanz, während er von
einer Seite zur anderen schlurfte, stehen blieb, wieder vorwärts hüpfte und
angestrengt nach allen Seiten spähte. Dann brüllte er laut, und Saban erkannte
die Stimme.
»In eurem Stamm«, flüsterte Kilda, »verkörpert der Bulle
Slaol, nicht?«
»Ja.«
»Dann beobachten wir also Slaol«, höhnte Kilda.
Gleichzeitig erblickte Saban Aurenna. Oder vielmehr sah er eine schimmernde
weiße Gestalt aus dem Schatten der Hütte hervortreten und leichtfüßig durch den
Tempel laufen. Seltsame weiße Fetzen schwebten hinter ihr her.
»Schwanenfedern«, erklärte Kilda im Flüsterton, und Saban erkannte, dass seine
Ehefrau einen Umhang trug ähnlich wie ihrer aus Eichelhäherfedern - nur dass
dieser hier mit Schwanenfedern besetzt war. Er schien in der Dunkelheit zu
leuchten, ließ sie wie ein überirdisches Wesen erscheinen. Sie tanzte von
Camaban fort, der in vorgetäuschtem Zorn brüllte und dann auf sie zustürzte;
aber sie wich ihm geschickt aus und rannte um den inneren Rand des Tempels.
Saban wusste nur zu gut, wie der Tanz enden würde, und er
vergrub das Gesicht in den Armen. Alles in ihm drängte danach, von dem Wall
hinunterzustürmen und seinen Bruder umzubringen - doch Kilda hatte ihm eine
Hand auf den Nacken gelegt und hielt ihn fest. »Dies ist ihr Wunschtraum«,
raunte sie, »der Traum, der sie zu dem Tempel angeregt hat, den ihr baut.«
»Nein«, murmelte Saban.
»Der Tempel dient dem Zweck, Slaol und Lahanna wieder zu
vereinen«, fuhr sie unbarmherzig fort, »und man muss den Göttern die Art und
Weise zeigen. Man muss Lahanna ihre Pflichten lehren.«
Saban blickte auf - inzwischen hatte Camaban seine
Verfolgungsjagd aufgegeben und stand jetzt neben den Opfergaben, die sich am
Fuß des Ringsteins türmten. Aurenna beobachtete ihn wachsam, wobei sie manchmal
einen kleinen Sprung zur Seite tat und dann zögernd wieder auf ihn zuging,
bevor sie abermals nervös davonlief; doch jedes Mal führten sie ihre unsteten,
ziellosen Schritte näher an den riesigen Bullen heran.
Dies ist der Wunschtraum, die Wiedervereinigung von Slaol
und Lahanna, dachte Saban - dennoch kochte er vor Wut. Wenn ich Camaban töte,
dachte er, dann wird der Traum niemals wahr werden, denn nur Camaban ist von
der flammenden Begeisterung beseelt, den Tempel zu vollenden. Und der Tempel
würde Slaol und Lahanna wieder zusammenbringen. Er würde dem Winter ein Ende
machen, er würde die Leiden und Nöte der Welt bannen. »Hat Derrewyn dir gesagt,
dass du mich hierher bringen sollst?«, fragte er Kilda. »Damit ich meinen
Bruder töte?«
»Nein!« Sie klang aufrichtig erstaunt über seine Frage.
»Ich habe dich hierher geführt, damit du den Traum deines Bruders siehst.«
»Und den Traum meiner Ehefrau«, sagte Saban bitter.
»Ist sie deine Ehefrau?«, fragte Kilda spöttisch. »Ich
habe gehört, sie hätte sich die Haare abgeschnitten wie eine Witwe.«
Saban blickte wieder in den Tempel hinunter. Aurenna stand
jetzt ganz in Camabans Nähe, dennoch
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