Cromwell, Bernard
Steine das erste Mal sahen; und die Sklaven sprachen jetzt nur
noch mit gedämpfter Stimme, während sie arbeiteten. »Er ist tatsächlich zum
Leben erwacht«, sagte Kilda eines Tages zu Saban.
Der letzte Pfeiler des Himmelsrings, der nur halb so breit
wie die anderen war, weil er den halben Tag des neunundzwanzigeinhalb Tage
langen Mondzyklus' darstellte, wurde am Tag der Wintersonnenwende aufgestellt.
Er ließ sich problemlos aufrichten, und Camaban, der gekommen war, um beim
Setzen dieses letzten Pfeilers zuzuschauen, blieb anschließend im Tempel, während
die Sonne unterging. Es war ein schöner Tag, kalt, aber klar, und den Himmel im
Südwesten überzogen schmale Streifen schleierdünner Wolken, die sich von Weiß
zu Rosa verfärbten. Ein großer keilförmiger Schwarm von Staren kreiste über dem
Tempel. Es waren unzählige Vögel, die sich wie eine schwarze Wolke gegen die
hohe Leere des Himmels abzeichneten, und alle bewegten sich im Gleichklang, als
sie geschlossen die Richtung wechselten - der Anblick brachte Camaban zum
Lächeln. Es war schon lange her, dass Camaban Freude empfunden hatte. »Es hängt
alles mit dem Muster zusammen«, sagte er leise.
Die Sonne sank tiefer am Horizont, ließ die Schatten des
Tempels länger werden, und Saban begann zu spüren, wie die Steine erwachten.
Sie sahen jetzt schwarz aus, denn er stand zusammen mit Camaban neben dem
Sonnenstein auf der heiligen Straße - die Schatten schienen unmerklich nach
ihnen zu greifen. Und als die Sonne noch tiefer sank, wuchs der Tempel
irgendwie in die Höhe, bis seine Steine turmhoch und dunkel aufragten. Dann
verschwand die Sonne hinter dem Deckstein des höchsten Torbogens, und die
ersten Schatten der Nacht hüllten die beiden Brüder ein. Hinter ihnen, in
Ratharryn, wurden die großen Wintersonnenwendfeuer angezündet; Saban
vermutete, Camaban würde in die Siedlung zurückgehen, um den Vorsitz bei dem
Festmahl zu führen - doch stattdessen starrte er gespannt und erwartungsvoll
auf die in Schatten getauchten Steine. »Gleich«, murmelte Camaban, »gleich ist
es so weit.«
Ein paar Sekunden später erglühte der untere Rand des
höchsten Decksteins in feurigem Rot, dann fielen die letzten Strahlen der Sonne
durch den schmalen Spalt zwischen den beiden höchsten Pfeilern, und Camaban
klatschte vor Freude in die Hände. »Es stimmt alles!«, jubelte er. »Alles
stimmt!«
Ringsum war das Land in Dunkelheit getaucht, und die
Schatten der Pfeiler des Himmelsrings verschmolzen miteinander, sodass die
heilige Straße wie in eine dunkle Decke gehüllt schien - aber im Mittelpunkt
dieses riesigen, von den Steinen geworfenen Schattens leuchtete ein
Lichtstrahl. Es war das Licht der sterbenden Sonne, das letzte Licht des
Sonnenjahres, und es fiel in einem endlos langen Strahl über die Wälder, über
die grasbewachsenen Hügel und direkt durch den Torbogen, um Camaban richtig zu
blenden, während er neben dem Sonnenstein stand. »Hier!«, brüllte er und schlug
sich auf die Brust, als wollte er Slaols Aufmerksamkeit auf sich lenken.
»Hier!«, schrie er abermals; dann beobachtete er verzückt, wie die Sonne hinter
die Steine glitt und alle Schatten zu einer riesigen Schwärze zusammenflossen,
die sich über das Grasland ausdehnte. »Begreifst du, was wir vollbracht
haben?«, fragte Camaban aufgeregt. »Der sterbende Sonnengott wird den Stein
sehen, der den Tag markiert, an dem seine Kraft am größten war — und er wird
sich nach dieser Kraft zurücksehnen, sich daher von seiner winterlichen
Schwäche befreien. Es wird klappen! Ganz sicher!« Er fuhr herum und umfasste
Sabans Schultern. »Ich will, dass der Tempel bis zum nächsten Wintersonnenwendfest
fertig ist.«
»Das wird er sein«, versprach Saban. Camaban starrte Saban
einen Moment lang in die Augen, dann runzelte er die Stirn. »Verzeihst du mir,
Bruder?«
»Was soll ich dir denn verzeihen?«, fragte Saban, obwohl
er nur zu gut wusste, was Camaban meinte.
Camaban schnitt eine Grimasse. »Slaol und Lahanna müssen
eins sein.« Er ließ Sabans Schultern wieder los. »Ich weiß, es ist hart für
dich, aber die Götter sind auch hart zu uns. Sie sind streng und unerbittlich!
Es gibt Nächte, da bete ich, dass Slaol endlich von seinem Stachelstock
ablässt — aber er lässt mich bluten. Er lässt mich bluten.«
»Und Aurenna bereitet dir Freude?«, hakte Saban nach.
Camaban zuckte zusammen, dann nickte er. »Sie bereitet
mir Freude, und was du erschaffen hast, Bruder« - er wies mit
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