Crossfire 1: Kontakt
in Mira City zu bleiben. Innerhalb der Stadtgrenzen gab es
genug Platz, um ein beträchtliches Wachstum zu erlauben.
Abgesehen von einem anfänglichen »Erweiterbaren
Erstbesitz« musste man sich den allerdings von der Mira
Corporation kaufen. Von den Einnahmen wollte das Unternehmen Polizei,
Straßen, Wasserversorgung und Abwassersysteme bezahlen, sowie
weitere kommunale Aufgaben finanzieren. Diese waren allerdings auf
ein Minimum beschränkt. Kindererziehung, medizinische Versorgung
und das Gemeinschaftsleben, einschließlich der Instandhaltung
der Stadtviertel, blieben in der Verantwortung der Einzelnen oder
einzelner Gruppen.
»Mit anderen Worten«, so hatte Jake es vor Jahren auf
der Erde erklärt, »wir fangen irgendwo zwischen Kommune und
Forschungsstation an und enden schließlich im Kapitalismus mit
gemeinschaftlichem Pioniergeist. Alles abgesichert von
Verträgen, die die Freiheit des Einzelnen betonen.«
Niemand hatte die leiseste Ahnung, ob dieses Konstrukt
funktionieren würde. Aber niemandem fiel etwas Besseres ein.
Bisher, und das waren weniger als sechs Monate Aufenthalt auf
Greentrees, hatte sich das System bewährt. Das lag zumindest
teilweise daran, dass sich der Planet als noch freundlicher und
fruchtbarer erwiesen hatte, als irgendwer zu hoffen gewagt hatte.
Trotzdem waren es natürlich nur sechs Monate. Und es traten
immer wieder Schwierigkeiten auf. Mit einer dieser Schwierigkeiten
befassten sich derzeit Gail und ihre Familie.
Neben dem groben Konzept enthielt die Satzung der Mira Corporation
viele Ergänzungen und Ausnahmen. Eine davon betraf Personen, die
Mira City vor Ablauf der ersten drei Jahre verlassen wollten. Ihnen
blieben zwei Möglichkeiten: anderswo zu leben, aber sich
darüber klar zu sein, dass sie das Land niemals besitzen
würden, egal, wie viel sie darin investierten – oder auf
einen Kontinent auf der anderen Seite des Ozeans überzusiedeln.
Die zweite Möglichkeit war nicht wirklich umsetzbar. Der
Shuttle, die Gleiter und die Geländewagen wurden allesamt von
der Mira Corporation gebraucht.
»Wir wollen uns ja gar nicht dauerhaft ansiedeln«,
erklärte Rick Sibley. »Aber wir wollen auch die
Ökologie an anderen Orten erforschen. Der Kontinent ist
groß, Leute, und überall können die Verhältnisse
anders sein! Amali und ich möchten an der Küste arbeiten
– hier.«
Gail sah auf die Landkarte, die die Projektionswand
ausfüllte. Verflucht, sie würde bald eine weitere
Linsenkorrektur brauchen. Alterwerden war nichts für
Feiglinge.
An der Westküste glühte ein roter Punkt, wo ein Fluss
aus den nahen Bergen ins Meer mündete. Rick sagte:
»Einzelheiten!«, und ein kleinerer Ausschnitt der Region
wurde als Karte gezeigt. Er fing an, über ökologische
Nischen zu referieren. Gail hörte nicht mehr hin.
Sie passte nicht so recht zu den weit verzweigten Cutler-Clans: zu
den Sibleys, den Statlers, den Richmonds und den deBeers. Zwei
Jahrhunderte lang hatte diese Familie Wissenschaftler, Bioproduzenten
und leidenschaftliche Umweltschützer hervorgebracht (und man
wusste ja, was die letztendlich erreicht hatten). Rick war
Ökologe und hatte einen Lehrstuhl in Harvard gehabt. Seine
hübsche malaiische Ehefrau Amali hatte in Oxford einen Doktor in
Meeresbiologie gemacht, Schwerpunkt Computersimulationen. Gail hatte
einen Abschluss in Wirtschaftslehre. Naturwissenschaften langweilten
sie, wie sie schon früh mit Entsetzen festgestellt hatte.
Auf das Entsetzen folgte Scham, aber irgendwann hatte Gail beides
hinter sich gelassen. Das verdankte sie größtenteils dem
spöttischen Blickwinkel, den Lahiri in ihre Beziehung gebracht
hatte. Die Welt – jede Welt – brauchte Verwalter, um die
Naturwissenschaftler zu unterstützen und sich mit den Leuten
auseinander zu setzen, die die ökologischen Ressourcen ausbeuten
wollten. Gail wusste, dass sie gut darin war, solange sie nicht zu
viele Einzelheiten aus fremden Wissensgebieten im Kopf behalten
musste.
In diesem Augenblicken allerdings lenkte der Gedanke an Nan Frayne
sie zu sehr ab.
Gail war besonders stolz darauf, wie gut sie Menschen
einschätzen konnte. Dabei ging es um rein pragmatische
Wertungen. Jakes manipulatives Geschick, mit dem er Leute herumschob
wie Schachfiguren, fehlte ihr völlig. Aber sie konnte für
gewöhnlich recht gut einschätzen, wozu jemand fähig
war und wo seine Grenzen lagen. Nan Frayne hatte sie bisher als
bloße Verschwendung von Sauerstoff eingeschätzt, als
missratenes, jämmerliches Etwas,
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