Crush Gier
Reden bringen. Sie war noch nicht bereit, darüber zu reden. Sie bezweifelte, dass sie je bereit sein würde, mit Wick darüber zu reden. Wo sollte sie überhaupt anfangen? Mit dem Tag, an dem sie ihren Vater beim Fremdgehen erwischt hatte? Konnte sie Wick begreiflich machen, wie tief verletzt sie gewesen war, als sie begriff, welches Ausmaà die Heuchelei hatte, die sie in ihrer Blauäugigkeit nicht gesehen hatte?
Oder sollte sie lieber bei Raymond anfangen? Wie er ihr nachgelaufen war. Wie er sie bei allen gesellschaftlichen Anlässen mit seinen sehnsüchtigen Blicken verfolgt hatte, selbst wenn seine Frau dabei war. Wie zuwider ihr seine Kuhaugen und seine feuchten Patscher gewesen waren, bis sie begriffen hatte, dass sie seinen
Liebeswahn dazu benutzen konnte, es ihrem Vater heimzuzahlen. Nein, darüber konnte sie unmöglich mit Wick sprechen.
»So«, sagte sie, nachdem sie die Naht mit einem neuen Pflaster abgedeckt hatte. »Schon fertig, und diesmal warst du sogar halbwegs kooperativ.«
Ehe sie zurücktreten konnte, hatte er ihre Hände gepackt und nach vorn vor seinen Körper gezogen, sodass sie ihn von hinten umarmte.
»Was machst du da, Wick?«
»Wer war dein idealer Patient?«
Sie tat die Frage mit einem ironischen Lachen ab, was gar nicht so einfach war, weil ihre Brüste gegen seinen Rücken drückten, ihre Hände das krause Haar auf seiner Brust spürten und ihr Unterleib gegen seinen Hintern gepresst wurde, bis er sich nervös zusammenzog.
Er hatte seine Hände über ihre gedeckt und hielt sie quasi gefangen. Seine Haut â nicht seine Epidermis, sondern seine Haut â strahlte Wärme und Leben in ihre Handflächen aus. Unter ihrer Linken spürte sie das kräftige Klopfen seines Herzens. Für jemanden, der jeden Tag fremde Herzen schlagen hörte, wirkte der Rhythmus seines Herzens eigenartig stark auf sie. Er lieà ihr eigenes Herz schneller gegen seine Rückenmuskeln schlagen.
»Sollten wir nicht losfahren, Wick? Ich dachte, du hättest es eilig.«
»Dein idealer Patient. Ich will alles über ihn oder sie erfahren, oder wir bleiben hier stehen, und du weiÃt genau, dass ich stur genug bin, um Ernst zu machen.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte er ihre Arme an seine Seite, sodass sie ihn noch fester umarmte.
Kapitulierend lieà sie die Stirn in die Mulde zwischen seinen Schulterblättern sinken. Doch dieses Gefühl war viel zu angenehm, viel zu schön, darum hob sie den Kopf nach ein paar Sekunden wieder.
»Es war eine Frau. Eine vierunddreiÃigjährige Frau. Ein Opfer
des Anschlags auf das World Trade Center. Ich war am elften September in Philadelphia auf einer Konferenz. Sobald ich gehört hatte, was passiert war, bin ich direkt nach New York City weitergefahren, wo ich spätabends ankam.
Sie gehörte zu den wenigen Opfern, die lebend aus den Trümmern gezogen wurden, aber sie hatte schwerste Verletzungen davongetragen. Ich versuchte ihre inneren Blutungen zu stillen. Ein Spezialist amputierte ihr ein Bein. Vierundzwanzig Stunden lang wussten wir nicht einmal, wie sie hieÃ. Sie hatte keinen Ausweis dabei und war nicht lang genug bei Bewusstsein, um uns zu verraten, wer sie war. Aber unterbewusst schien sie zu fühlen, dass wir ihr halfen. Jedes Mal, wenn ich ihre Hand nahm, um sie spüren zu lassen, dass sie in Sicherheit war, dass sich jemand um sie kümmerte, erwiderte sie den Druck meiner Finger.
SchlieÃlich blieb sie lange genug wach, um uns ihren Namen zu verraten, und dieser Name passte zu dem einer Familie, einer unter Tausenden, die verzweifelt nach Angehörigen suchten. Sie stammte aus Ohio und war auf Geschäftsreise gewesen. Ihr Mann und ihre Kinder standen schlieÃlich unter Tränen an ihrem Krankenbett. Und dabei sah sie mich an. Der Blick aus ihren Augen sagte so viel, dass sie kein Wort zu sprechen brauchte.«
Irgendwann während des Redens war ihre Wange auf Wicks Rücken gesunken. Er streichelte ihre Handrücken, die immer noch auf seiner Brust lagen. »Du hast ihr das Leben gerettet, Rennie.«
»Nein.« Ihre Stimme war belegt. »Das konnte ich nicht. Sie ist zwei Tage später gestorben. Sie wusste, dass sie sterben würde. Wir hatten ihr erklärt, dass es zweifelhaft war, ob sie die schweren Verletzungen überleben würde. Sie dankte mir dafür, dass ich sie am Leben erhalten
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