Cruzifixus
vertragen konnte. Der Tag würde so und so in einem totalen Systemabsturz enden. Dabei hatte alles so gut angefangen: Simon war mit dem Merkur-Fotografen durch die Festzelte getourt, hatte in Flachkirchen, Raufham und Niedering Station gemacht, um Stimmen und Impressionen für seine Reportage zu den Maifeierlichkeiten im Lande einzufangen. Der Erste Mai war im Virgilswinkler Land seit undenklichen, präindustriellen Zeiten ein Festtag. Hier marschierten nicht die Salonspartakisten und Rotfrontkämpfer sondern die Gebirgsschützen, Trachtenvereine und Brauchtumsgruppen, hier hatte die Internationale keine Chance, hier ließen weiß-blau gesinnte Patrioten ihren König hochleben und lauschten mit tränenfeuchten Augen den sentimentalen Klängen des König-Ludwig Lieds. In diesem „Gäu“ war man stolz auf seine Herkunft und seine Heimatverbundenheit, stolz auch noch nach der fünften Maß erhobenen Hauptes zu Heldentaten zu schreiten! Simon war kein Freund von Aufmärschen und Umzügen, von Volksaufläufen und kollektiven Besäufnissen. Aber der Erste Mai war für ihn als Bayern so etwas wie der 14. Juli für einen Franzosen: der Feiertag eines seiner staatlichen Eigenständigkeit, seiner nationalen Identität beraubten Volkstamms. In den Wochen um Walpurgis brach sich etwas Heidnisches, Anarchisches, Ungezügeltes seine Bahn. Etwas, dass gegen die Herrenkaste aufmuckte, dass sich den etablierten Macht- und Herrschaftsstrukturen widersetzte. Etwas, dass sich nach Freiheit und Selbstbestimmung sehnte, von Umsturz und Rebellion träumte. Etwas Ekstatisches, Fiebriges, beängstigend und berauschend zugleich.
Die vertrauten Klänge von Pauken und Posaunen, von Tschinellen und Trompeten ließen Simon mit den Füßen wippen. Er wandte den Kopf, blickte zur Bühne hinüber: Der kugelbäuchige Kapellmeister schwang verzweifelt seinen Taktstock, konnte indes nicht verhindern, dass die Blechbläser den Faden verloren, der stampfende Marschrhythmus aus den Fugen geriet und sich das martialische Geschmetter der Hörner, das Tremolo der Trompeten, das Tuten der Tuba in einem dissonanten Dreiklang auflöste. Neben ihm mokierte sich Ewald:
„Bei dem grausigen Getröte, laufen ja alle Mäuse davon! Und für so etwas verlangen die auch noch Eintritt! Da winselt ja der Nero, unser rachitischer Hofhund schöner.“
In Anbetracht seiner blutunterlaufenen Stieraugen war es klüger sich auf keine kontrovers geführten Diskussionen einzulassen:
„Was echauffierst dich über die Dumpfschädel. Trink ma was!“
Ewald grummelte, aber gehorchte. Er stieß seinen im Halbdelirium vor sich hin brabbelnden Zwillingsbruder an:
„Sebald, hoch die Maß! Schlafen kannst später in der Gruben drunten!“
Sebald tat wie ihm geheißen und auch der Vierte im Bunde erwachte aus dem Koma und gab ein Lebenszeichen von sich:
„Genauso schaut es aus! Eine geht aller weil!“
Dominikus Dirrigl entstammte einem zwar alteingesessenen, aber übelbeleumdeten, als asozial verschrienen Taglöhner-Clan. Er war der Jüngste von drei Brüdern und der mit dem höchsten IQ. Nach dem Absolutorium war er als Alumne im Priesterseminar Freising untergekommen. Sprosse für Sprosse war er auf der kirchlichen Karriereleiter nach oben gestiegen. Nach Lehrjahren in München und Rom war er an den heimatlichen Gestaden gestrandet. Immerhin hatte er es bis zum Diözesandechanten gebracht. Trotz seines geistlichen Stands hatte Dominikus nichts Vergeistigtes oder gar Verklärtes an sich: er war ein Opportunist und Karrierist, der pragmatisch zu Werke und notfalls über Leichen ging. Ein gewiefter Taktierer, der über einen ausgeprägten, machiavellistischen Instinkt verfügte und hinter den Kulissen die Strippen zog. Dirrigl war der geborene Ränkeschmied, ein Künstler der Kabale. Ein heuchlerischer Philister und Pharisäer, der einem vorne herum Honig um den Bart schmierte und einen hinten herum diffamierte und anschwärzte. „Fra Domenico“ verstand es meisterhaft seine Intrigantennatur unter dem Deckmäntelchen des redegewandten, leutseligen Gottesmanns zu verbergen, der sich zwanglos unters Volk mischte und die Annehmlichkeiten und Freuden des diesseitigen Lebens in vollen Zügen genoss. Sein Riesenranzen kam schließlich nicht von ungefähr. Wenn er keine gravierenden Fehler
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