Cruzifixus
Fiakers thronte unbewegt auf dem Kutschbock. Für einen Moment kam es ihm vor, als ob dort oben Charon saß, der sich aus der Unterwelt abgesetzt hatte, da ihm der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war.
Der Stab der Circe
Multitudo est id quod est ex unis quorum unum non est alterum! Eine Menge ist eine Zusammenfassung von wohl unterschiedenen Objekten zu einem Ganzen!
Auf dem Biertisch surrte und schnurrte sein Notebook. Neben den geschäftig brummenden Portable standen zwei leere Maßkrüge. Simon starrte aus geröteten Augen, die einem Dracula alle Ehre gemacht hätten, auf das Stillleben voll sinnbildhafter Symbolik: Tradition und Fortschritt, Laptop und Lederhose waren wie Yin und Yang, waren wie Om und Ohm, wie Ave Maria und Ampere. Althergebrachtes und Neumodisches lebte im Virgilswinkel in friedlicher Koexistenz nebeneinander her. Simon war an dem fatalen Punkt angelangt, an dem er ins Sinnieren geriet und unweigerlich in melancholische Fahrwässer abdriftete. Wieder einmal hatte er die berauschende, narkotisierende Wirkung des süffigen, leicht süßlich schmeckenden Maibocks unterschätzt. Maß für Maß verlor er die Orientierung in Raum und Zeit. Er saß in einem Karussell und die Welt drehte sich um ihn herum. Gesprächs- und Geräuschfetzen waberten durch das Bierzelt, überlappten, vermischten sich. Stieren Blicks schielte er nach dem Zifferblatt seiner Uhr: In dem diffusen Zwielicht gelang es ihm kaum, die Stunden- und Minutenzeiger auseinander zu halten. Jedenfalls hätte Vinzenz längst da sein müssen. Wo blieb der Sprücheklopfer bloß? Dabei hatte er es am Telefon ganz notwendig gehabt, um ihm im Tonfall eines Naderers zuzuraunen, dass er wisse, wo sich sein Onkel, der seit Tagen spurlos verschwundene Klausner von Hochharting, aufhalte. Nach einigem Hin und Her hatte sich Simon breitschlagen lassen und Vinzenz ein üppiges Informantenhonorar in Aussicht gestellt, falls er ihm den alten Spinner auf dem Silbertablett servierte. Wider besseres Wissens hatte sich Simon auf Vinzenz verlassen und Griesgruber eine sensationelle Enthüllungsgeschichte versprochen. Was sollte er jetzt tun, jetzt da er mit leeren Händen dastand? Das Gerät surrte in maschinenartiger Monotonie vor sich hin. Simon suchte angestrengt nach den passenden Worten, um der allgemeinen Bestürzung angesichts des Verschwindens des Klausners Ausdruck zu verleihen. Sollte er der Geschichte einen melodramatischen Anstrich verleihen, sollte er den Teufel an die Wand malen oder sich an eine einfache, arithmetische Formel halten? Wenn A gleich C und B gleich C, dann war folglich auch A gleich B. Mit diesem Kunstgriff ließen sich Birnen mit Äpfeln, Zwetschgen mit Pflaumen vergleichen, hypothetische Annahmen und Konjekturen per Analogieschluß verknüpfen. Aufgrund der inneren Logik der Analogien fügten sich selbst fragmentarische Fakten in ein auf den ersten Blick einleuchtendes Schema. Und er als Autor musste sich keine großen Gedanken um die Kohärenz und Beweiskraft des Ganzen machen. Denn genau genommen wusste er gar nichts! Fest stand lediglich, dass Egidius Hallhofer, der Eremit von Hochharting, seit drei Tagen spurlos verschwunden war. Weder sein Messner noch der als Hausfaktotum ein kärgliches Auskommen findende Alk-Aussteiger wussten etwas über den Verbleib des Alten zu sagen. Was war passiert? Darüber ließ sich nur spekulieren. War er Opfer eines Verbrechens geworden? War er entführt oder gar ermordet worden? War er in den Bergen verunglückt oder war er Hals über Kopf aufgebrochen, um zum heiligen Jakob nach Santiago de Compostela zu pilgern? Ein Exklusivinterview mit dem Einsiedler würde jedenfalls einschlagen wie eine Bombe. Punktgenau und präzise wie einer jener amerikanischen Wunderwaffen in den Palästen Saddam Husseins. Und was war? Er hockte da wie bestellt und nicht abgeholt! Vor lauter Frust hatte Simon sämtliche guten Vorsätze über Bord geworfen und sich dem Trunk ergeben. Jetzt, nach der dritten Maß, war an ein konzentriertes, kreatives Arbeiten nicht mehr zu denken. Auf dem Daten-Highway war die Hölle los, die Mortalitätsrate unter den grauen Zellen nahm exponentiell zu und sein Denkvermögen reduzierte sich auf das eines Extrembergsteigers auf dem Everest. Sprich: Simon hatte erhebliche Schwierigkeiten einen klaren Gedanken zu fassen und sich klar und verständlich zu artikulieren. So hob er nur den Daumen, um einer vorbeieilenden Bedienung zu signalisieren, dass er noch eine Maß
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