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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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ein Knacken im Geäst. Simon hielt die Luft an. Seine Nackenhaare sträubten sich. Wer war das? Wer krauchte da durchs Unterholz? Eine raunslige, wücherige Wildsau, ein schießwütiger Wildschütz? In die Waldesstille hineinlauschend, vermeinte er wirre, aufgeregte Stimmen, hastige Schritte zu hören. Wurde er verfolgt? Simon spürte wie tausend Spinnenbeinchen seinen Rücken hinauf und hinunter krabbelten. Er blähte die Nüstern, spitzte die Ohren, doch die Stimmen wurden leiser und entfernten sich. Was ging da draußen vor? Die Angst siegte indes über Simons Neugier. Er beschloss den Rückzug anzutreten. Ängstlich darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu verursachen, tappte er durchs Dickicht. Er sah bereits das Gold des Kirchturmknaufs durchs Grün der Zweige schimmern, da durchschnitt ein Schrei die Stille. Ein gellender, verzweifelter, von Angst erfüllter Schrei, der das Blut in den Adern stocken ließ. Es war der Todesschrei eines gefallenen Engels.

 
    Der Pfeil des Abaris
    Qualis rex, talis grex! Wie der Herr, so’s Gscherr!
     
    Sein Büro in der „Bel Etage“ des Redaktionsgebäudes drohte in der Papierflut zu versinken. Sein Schreibtisch ragte wie der Bug der Arche Noah aus den sich hoch auftürmenden Zeitungsstößen und Bücherbergen. Simon hockte im Schneidersitz auf den mit Tintenflecken verunstalteten, handgewebten Kelim, den sein Chef voriges Jahr auf irgendeinem nahöstlichen Basar zum Schnäppchenpreis erstanden hatte. Er musste Platz schaffen, Platz um seine Gedanken fließen und sich dann verfestigen zu lassen. Zuvor musste er jedoch den Kampf gegen die tausendköpfige Hydra der Schreibwut aufnehmen. Er stopfte PR-Blättchen, Pasquillen und Postillen unbesehen in den überquellenden Abfalleimer, fütterte den Reißwolf mit dicken Stapeln geduldigen Papiers. Nach vollbrachtem Vernichtungswerk warteten Horaz und Catull, Vergil und Ovid, Martial und Lukrez auf ihn. Schon auf dem Gymnasium hatte er die Sprache der Senatoren, Liktoren und Gladiatoren geliebt. Latein, das waren Wendungen von imperialer Majestät, das waren Sentenzen und Parömien von geschliffener Brillanz, das war eine Syntax von grammatikalischer Grandezza. Von wegen tot und vergessen! Die ehernen Sätze trafen wie der Pfeil des Abaris noch nach 2000 Jahren ins Schwarze. In Poesie und Prosa reflektierten die Literaten Roms die Kniffe, Finessen und Figuren der Rhetoriker: Allusion, Apokope und Asyndeton, Chiasmus, Contradictio in adjecto und Correctio, Dikolon und Epitheton, Emphase, Epanalepse und Epipher, Hyperbel, Hypotaxe und Hysteron, Katachrese, Litotes und Parenthese. Welch ungeheure Wortgewalt, ja Wörterwut! Es erschien Simon nur logisch, dass die Römer mit den Griechen im Gepäck zur Weltmacht aufgestiegen, Gallier und Germanen, Iberer und Illyrer besiegt, ein Imperium der Superlative errichtet hatten. Es war die Sprache des Latiums, das Latein, das den römischen Adler zu seinem Höhenflug beflügelte:
                „Ceterum censeo Carthaginem delendam esse!“
                Karthago muss dem Erdboden gleich gemacht werden! Cato, Cicero, Catull & Co. wussten, um die Macht der Worte, denen unweigerlich die Taten folgten. Wer die Dämonen der Deklination zu bändigen, die wilden Bestien des Dativs und des Genitivs zu zähmen wusste, den schreckte nichts mehr: keine Streitäxte schwingenden Barbaren, keine mannstolle, männermordende Messalina, kein Messias und kein Mithras. Ob Plebejer, ob Patrizier – ein Römer stand seinen Mann in der Schlacht. Hatte er doch eine Vision vor Augen: mit dem Lorbeer des Siegers bekränzt in Rom einzuziehen, in die heilige, die ewige Stadt. Rom verkörperte die Ratio des Rammbocks, das Lächeln Fortunas, das Mysterium der Macht. Ein Mysterium, das gewöhnlich Sterbliche in Heroen, in Halbgötter, in Unsterbliche verwandelte. Simon war indes kein imperialer Dichterfürst, er war nichts als ein nichtswürdiger, im Sold des Kapitals stehender Schreibknecht. Andachtsvoll betrachtete Simon die Reihe der in helles Leinen und haselnussbraunes Leder gebundenen Klassiker: eine Anthologie griechisch-römischer Lyrik, ein Sammelband mit Sentenzen, Ovids „Metamorphosen“, Vergils „Aeneis“, die „Sermones“ des Horaz, die „Germania“ von Cornelius Tacitus, das „Satiricon“ des Petronius Arbiter. Versonnen blickte er zum Fenster hinaus. Es war einer jener Tage, an dem die Welt schief in den Angeln hing, an dem das Leben aus dem Leim ging. Simon versank

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