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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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in träumerischer Melancholie, überließ sich einem Strom schwermütig, wehmütiger Gedanken: der Lorbeer war welk, der Marmor glanzlos und stumpf geworden. Die Zeit der Heroen war abgelaufen, war ein für allemal vorbei. Die Wahrheit war wahrlich eine Tochter der Zeit. Er sah eine einsame Gestalt an den Gestaden des Sees Genezareth stehen. Den Sohn eines Menschen, der dort seine Netze auswarf.
     
    Es waren die Worte, die Flügel verliehen:
                „Ad finem, spes decedet! Die Hoffnung stirbt zuletzt!“
                Mit welcher Wendung sollte er seinen Nachruf beschließen? Die lateinischen Laute zergingen ihm auf der Zunge:
                „Ecce solis tempera. Vincit tempus omnia! Sic itur ad astra!“     Simon starrte in die Leere der flirrenden Bleiwüste. Seine Augen tränten, seine Lider wogen schwer wie die Bleigewichte im alten Rom. Welche salbungsvollen Worte hätte Dirrigl selbst gewählt? Einen Vers des Vergil? Einen Hexameter, einen Alexandriner, ein Distichon? Eine geistreiche Sentenz des Seneca? Einen Satz aus der Regula Benedicti? Ein Diktum das an die Vergänglichkeit alles irdischen Seins gemahnte, über das Thema von Verzeihung und Vergebung präludierte und die Güte und Gnade Gottes anpries? Es musste sich doch irgendein sinniges Aperçu finden lassen! Aus dem Redaktionsraum nebenan drang Vronis genervt klingende Telefonstimme:
                „Die sieben Posaunen der Apokalypse? Nein, die sind mir nicht geläufig! Ein religiös motiviertes Attentat? So weit wir wissen, handelt es sich um einen Unglücksfall. Bitte wenden Sie sich…“
                Seine Stirn wellte sich wie die Oberfläche eines Bergsees an einem stürmischen Tag. Jetzt da nach und nach mehr über die Begleitumstände des tragischen „Unfalltods“ durchsickerten, machten die wildesten Gerüchte die Runde, wurden die absonderlichsten Vermutungen kolportiert, stand das Telefon in der Redaktion nicht mehr still. Was ging nur in den Köpfen vor? Auf welch abwegige, kranke Ideen verfielen die Leute? Hell- und Schwarzseher, Weis- und Wahrsager, Auguren und Dämonenjäger stürzten sich wie die Heuschrecken auf den „Höllensturz“, suchten darin ein geheimes Zeichen, einen Fingerzeig Gottes, einen tieferen Sinn zu erkennen. Simon schloss die Augen, konzentrierte sich auf den Schlusssatz. Welche Quintessenz sollte er aus dem „Fall“ ziehen? Ein kontemplatives Konstrukt? „Inquietum cor nostrum, donec requiescat in te!” Etwas Tiefschürfendes? „Currite, dum lumen vitae habetis!“ Etwas Ergreifendes, Aufwühlendes? „Homo sum, humani nihil a me alienum puto!“ Etwas Düsteres, Ahnungsschweres? „Media vita in morte sumus!“ Etwas Vages, Kryptisches? „Ludit in humanis divina potentia rebus.“ Mit fahrigen Handbewegungen strich er durch seine ungestüm wallende, an einigen exponierten Stellen schütter werdende Midlife-Mähne. Sollte er die Bibel ausschlachten oder sich im Fundus frommer Poetensprüche bedienen? „Vere’ hic est Domus Dei et porta Coelis. Wahrlich hier ist das Haus Gottes und die Pforte des Himmels!“ So oder so - er musste mit seinem Latein zum Ende kommen! Der Artikel musste in den Satz – und zwar schleunigst! Simon schielte auf die Uhr. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass es kurz nach Fünf respektive fünf vor Zwölf war.
     
    Der erste Blick in die Korrekturfahnen bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Zwischen den Textblöcken gähnten riesige Löcher, im Lokal- und Regionalteil erstreckten sich weiße Flecken auf der typographischen Landkarte. Ein Satzspiegel, der den Schlendrian, der sich in der Redaktion eingenistet hatte, widerspiegelte:
                „Sauladen! Um jeden Scheiß muss man sich selber kümmern.“
                Seine Titelstory glich einem Schlachtfeld, durch die der Korrekturstift seine Blutspur gezogen hatte. Die Schlussredaktion monierte Tipp-, rügte Rechtschreibfehler, mäkelte an der mangelhaften Interpunktion herum. Simons Gesicht nahm die Farbe eines Hummers an, der in siedend heißem Wasser paddelte:
                „Eigenwillige Orthographie! Diese Federfuchser müssen reden!“
                Simons gerechter Zorn schäumte, als er über die spöttischen Randbemerkungen Vronis stolperte:
                „Dünn wie ein magersüchtiges Model! Endemische Bulimie!“
                Simon suchte vergebens nach Worten, um seiner

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