Cruzifixus
hatte er kein Gramm zuviel auf den Rippen gehabt. Ein durchtrainierter, Muskel bepackter Modellathlet, der seinen Spitznamen, der „Panther von Palfing“, alle Ehre gemacht hatte. Die Zeiten als er sich von Edelweiß zu Edelweiß hangelte, ihm keine Wand zu steil war, waren allerdings längst passe.
Heute ließ er es geruhsamer, gemächlicher angehen. Er war schließlich keine Zwanzig mehr. Alles hatte seine Zeit - auch das Alter. Mit wonnevoller Hingabe massierte er seine Speckfalten, die wie Hula-Hoop-Reifen um seine Hüften wackelten. Wieso sollte es einem Mann anders ergehen als einem Baum? Die Fichten und Tannen im Wald legten sich schließlich auch Jahr um Jahr neue Ringe zu. Endlich kam sein Verdauungsapparat in Fahrt: die Faulgase entwichen mit einem pfeifenden Geräusch, ein gewaltiger Furz donnerte wie eine Gesteinslawine zu Tal, bahnte sich einen Weg zwischen den beiden gewaltigen Pobacken. Eine funktionierende Verdauung war das A und O im Leben. Wer unter chronischer Verstopfung oder akutem Dünnpfiff litt, war in seinen Augen nur ein halber Mensch. Paintinger grunzte wie ein Mastschwein in der Suhle, schlüpfte in ein fadenscheiniges Holzfällerhemd, das so aussah als ob ein Clochard darin die letzten vierzig Tage und Nächte von Sodom verbracht hatte. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm seine Wampen in eine speckige, von Fettflecken übersäte Krachlederne zu zwängen. Er zog sich seine filzige Wolljoppe über und machte sich mit breiter Brust ans Tagwerk.
Wie jeden Morgen führte sein erster Weg zur hauseignen Wetterstation am Balkon. Die Nacht war noch sternenklar gewesen. Auf dem Heimweg vom Postbräu hatten die Gestirne wie Edelsteine vom Firmament gefunkelt. Über Nacht hatte der Wind jedoch gedreht. Ein böiger Nordwest trieb eine Herde graubäuchiger Regenwolken über die Wipfel der düster dreinblickenden Waldbuckel. Die scharf umrissenen Konturen des Reisenbergs waren dabei aufzuweichen, sich hinter den Dunstschleiern in ein graues Nichts aufzulösen.
Er las die Werte von Barometer und Hygrometer ab und übertrug Sie fein säuberlich in eine Tabelle:
„12,1 Grad Celsius, relative Luftfeuchtigkeit 97%, Luftdruck 1002,4 Bar, Tendenz fallend.“
So wie es aussah würde das Wetter „halten“. Sturmwind und Regenschauer schreckten ihn nicht. Ja, er freute sich über das „Sauwetter“ draußen. Einem kapitalen Keiler, einem brunftigen Eber, einer heißhungrigen Bache war es scheißegal, ob es stürmte oder schneite. Sollte es ruhig wie aus Odelfässchen gießen! Dann blieb wenigstens die Meute der Wellness-Walker und Balance-Biker im Hotel und er war allein auf weiter Flur, allein mit Wald und Wild. Zufrieden vor sich hin summend schloss er die Balkontür und öffnete den Waffenschrank. Er unterzog den Stutzen einer oberflächlichen Überprüfung, fuhr mit den Fingern über den metallisch glänzenden Gewehrlauf und schob ein Päckchen Munition in seine Joppentasche. Paintinger warf den Stutzen über die Schulter und stieg die Treppe hinab. Die Jagdleidenschaft lag ihm im Blut. Ja, er war eine Nimrodnatur. Was Wunder bei einer solch illustren Ahnengalerie.
Sein Urgroßvater, der „Latschen-Luggi“, hatte sich als Intimus des Räuberhauptmanns Kajetan Speckbacher einen legendären Ruf als wackerer Wildschütz und notorischer Weiberheld erworben. Der Latschen-Luggi war zusammen mit drei seiner Gefährten bei der legendären Wildererschlacht am Wildmoos ums Leben gekommen. Der königlich-bayerische Gendarmeriekommandant Grünauer hatte den Luggi auf dem Kieker gehabt, weil ihm dieser nicht nur sein Gspusi ausgespannt, sondern sich im Wirtshaus über dessen fehlende Manneskraft lustig gemacht hatte.
Es gab nichts Schöneres für ihn, als auf die Pirsch zu gehen, Rehen, Sauen und Hirschen nachzustellen. Draußen im Wald ließ sich trefflich über die Vergänglichkeit alles Irdischen räsonieren, ließen sich tiefe Einsichten in die Natur der Dinge gewinnen. In letzter Zeit überkam ihn immer öfters das bedrückende Gefühl sein Talent verschleudert, sein Genie an Nebensächlichkeiten verschwendet zu haben. Unter anderen Zeitumständen hätte er es weit bringen können. Paintinger war felsenfest davon überzeugt, dass eine Koryphäe des Geists, ein Goethe, ein Kant, ein Schopenhauer in ihm schlummerte. Hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, sein Leben wäre anders
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