Cruzifixus
Andachtsraum glich einer Rumpelkammer respektive einer mit Relikten und Reliquien voll gestopften Asservatenkammer. Überall standen abmontierte Kreuzwegbilder, verstaubte Schreine und Tabernakel, ausgemusterte Heiligenfiguren und anderes Gerümpel herum. Mühsam bahnte sich Pfleiderer einen Weg durch das Tohuwabohu. Ein Mann von seiner Statur musste höllisch aufpassen, musste sich wie ein Limbotänzer um Ecken und Kanten winden, um nicht über das Kreuz Christi zu stolpern oder der heiligen Jungfrau zu nahe zu treten. Mit betont sorglos klingender Stimme mahnte er Simon zur Vorsicht:
„Passen Sie auf Herr Sternsteiner. Hier hinten wimmelt es von Stolpersteinen und scharfkantigen Teilen! Hier gehört einmal richtig entrümpelt – was übrigens auch den päpstlichen Dogmen gut täte.“
So als ob er seinen Sozius zu Höchstleistungen anspornen wollte, rief er ihm aufmunternd zu:
„Erinnern Sie sich an das Sprichwort mit dem Kamel, das durchs Nadelöhr geht? Wussten Sie, dass es sich dabei um den kapitalen Bock eines Kopisten handelt? In der griechischen Originalfassung, der Septuaginta, steht nicht etwa „kámelos“ sondern „kámilos“ - also Tau. Sie sehen wie ein kleiner Schreibfehler den semantischen Sinn verdreht und verstümmelt! Das Problem daran ist, dass sich die Gelehrten selber uneins sind, welche Version nun die Richtige ist. Original und Duplikat unterscheiden sich oft nur in winzigen, aber entscheidenden Details. Jedes Jahr kommen neu kompilierte, redigierte und kommentierte Bibelausgaben auf den Markt – und die Verwirrung ist komplett. Pater Ägid hat jedenfalls die vom Vatikan autorisierte Textfassung als unvollständig, unkorrekt und missverständlich verworfen. Selbst wohlmeinende, Kritik gegenüber aufgeschlossene Kollegen haben den Pater daraufhin heftig angefeindet und die Forderung erhoben, gegen den rebellischen, renitenten Querulanten mit aller gebotenen Strenge vorzugehen!“
Simon bemühte sich nirgends anzuecken, nicht in zu enge Tuchfühlung mit Marien- und Heiligenfiguren zu geraten. Er duckte sich unter der Lanze des heiligen Georg und wich in letzter Sekunde dem drohend erhoben Schwert des Erzengels Gabriel aus. Da kam es wie es kommen musste: der Saum seines Pullovers verfing sich in der Dornenkrone eines sich im Dornröschenschlaf befindlichen Geißelheilands. Ehe sich’s Simon versah, war das Malheur bereits geschehen: es machte Ritsch, es machte Ratsch - und die ineinander verschlungenen Maschen des flauschigen Vlieses dehnten sich und rissen. Simons Miene verfinsterte sich, wurde hart und undurchdringlich wie Untersberger Marmor. Der Pullover war ein Geschenk Vronis! Als er das Ausmaß des angerichteten Schadens erkannte, schoss ihm die Zornesröte ins Gesicht. Seine Wangen glühten wie überhitzte Herdplatten. Sein Blutdruck stieg rapide, die Temperatur im „Kessel“ erhöhte sich sprunghaft. Damit es zu keiner Kettenreaktion, zu keinem unkontrollierten Wutausbruch kam, musste er die Ventile öffnen und Dampf ablassen:
„Kruzifix, kruzifix! Wieso muss gerade mir immer so ein Scheißdreck passieren!“
Pfleiderer wandte den Kopf in seine Richtung:
„Wo bleiben Sie? Heiliges Blechle, haben Sie sich irgendwo den Kopf angestoßen?“
Das gütige, mitleidige Lächeln der schwäbischen Frohnatur war so breit wie das eines blöd gekifften Jesushippies.
Seine Äuglein leuchteten wie die Sonne über dem Berg Zion. Sein ausgestreckter Zeigefinger wies ihm die Blickrichtung:
„Schauen Sie! Die Zentralachse des Chors weist genau gen Osten! Die hohen Fensterbahnen bündeln das Licht und versinnbildlichen jeden Tag aufs Neue das Wunder der Auferstehung.“
Der Blick Pfleiderers war seltsam verklärt, schien sich in visionären Fernen zu verlieren:
„Die Westwand dagegen ist massiv wie eine Felswand, um das Heiligtum gegen die Mächte der Finsternis abzuschirmen. Denn von Westen her, dämmert der Tag des Jüngsten Gerichts herauf. Die Parusie, die Wiederkunft Christo, geht nach tradierten Verständnis unweigerlich mit einem fürchterlichen Strafgericht einher!“
Endlich hatten Simon und sein Führer ihr vorläufiges Ziel, die noch aus der gotischen Bauperiode stammende Sakramentskapelle
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