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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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Ottonen oder zumindest kurz danach. In solchen Knochenkästchen hat man früher die Gebeine von Heiligen verwahrt und verehrt.“
                Pfleiderer drückte ihm das unscheinbare Reliquiar in die Hand:
                „Nur nicht so schüchtern. Das Kästle besteht aus massivem Kalkstein – das zerbricht so leicht nicht.“
                Wie ein Schimpanse eine Banane betastete Simon den Miniatursarkophag. Eine tüchtige Handwerkerhand hatte ihre Handschrift hinterlassen, hatte dem spröden Material seltsam verschlungene Ornamente und bizarre Phantasiefiguren entrissen. Sein fragender Blick veranlasste seinen Führer zu einer kunsthistorischen Würdigung:
                „Es bedarf einer gewissen Übung, um aus diesen ungeschlacht anmutenden Darstellungen mit ihrer eigentümlichen Symbolik schlau zu werden. Sehen Sie genau hin! Es handelt sich unverkennbar um die Ölbergszene – der im Garten Gethsemane kauernde Jesus und seine schlafenden Jünger. Eigenartigerweise wacht eine einsame Gestalt bei Jesus. Ist es ein Engel, ein Jünger? Selbst die Kenner der mittelalterlichen Bildsprache können da nur Vermutungen anstellen. Den Deckel zieren Kreuz und Kelch - zwei Symbole des Glaubens, die das Chi Rho, die Initialen Christi, umschlingen.“
                Bei der Betrachtung des tausend Jahre alten Kästchens, dass die Gebeine eines im Dunkel der Zeiten Versunkenen enthielt, geriet Simon ins philosophieren:
                „Das Fleisch vergeht, der Geist besteht!“
                Ohne sich an der Trivialität jener Erkenntnis zu reiben, nickte Pfleiderer bekräftigend:
                „Was kommt danach? Diese Frage hat die Menschen seit undenklichen Zeiten beschäftigt. Wann kommt das Heil, wann werden wir vom dunklen Ritter, dem Tode erlöst? Ist ihnen der Name Joachim von Fiore geläufig, seine These von den drei Zeitaltern? Niemand, der sich wie Frater Ägid den mythologischen Aspekten des Christentums verschreibt, kommt an dem Seher aus Kalabrien vorbei.“
                Simon runzelte die Stirn. Wieso hatte er andauernd das bedrückende Gefühl, sich im Kreis zu drehen? Welche geheime Botschaft verbarg sich in den Chiffren Christi? Wer schwang sich im Namen Gottes zum Richter über Leben und Tod auf?
     
    Pfleiderer bedeute Simon ihm ins Schattenreich der Krypta zu folgen. Sein Bassbariton hallte dumpf von den sich aus massigen Pfeilern stemmenden Gewölben:
                „Hier unten wird die Vergangenheit präsent. Man fühlt sich wie in einem Zeittunnel, der mitten hinein ins Mittelalter führt!“
                Pfleiderer bog um ein Mauereck, plötzlich schien seine Stimme von überall her zu kommen:
                „Fiore war seiner Zeit weit voraus. Ein Mystiker mit prophetischen, hellseherischen Gaben, erfüllt von einer Sehnsucht nach einem Leben in der Nachfolge Christi. Als Abt des Zisterzienserklosters Corazzo führte er tief greifende Reformen durch. Fiore wollte jedoch mehr, wollte näher bei Gott, beim Geist sein. Er verließ die Abtei und zog sich in die Abgeschiedenheit der dichten, nur von wilden Tieren bewohnten Wälder des Sila-Gebirges zurück. Dort lebte er als Asket in strenger Klausur. Bald jedoch schloss sich ihm eine Schar von Jüngern an, die wie er ein heilgemäßes Leben in Gott, abseits des Weltgetümmels führen wollten. So entstand nach und nach eine eigene Gemeinschaft, der Orden der Florenser! Die von Fiore verfasste Regel, eine verschärfte Version der Regula Benedicti, erhielt umgehend die päpstliche Approbation. Hierzulande wurden die Mönche mit ihrem härenen, grauen Kittel unter dem Namen Waldbrüder bekannt.“
                Verwirrt verhielt Simon seine Schritte. Das Echo von Pfleiderers Stimme hallte von den Wänden. Wo war der Pfarrer hin? Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? Simon schaute sich suchend um. Er befand sich inmitten eines versteinerten Säulenwalds. Undeutlich vermeinte er das Klirren von Sträflingsketten, einen Chor klagevoller, sich mühsam dahin schleppender Stimmen zu hören:
                „Va' pensiero, sull'ali dorate. Va' ti posa sui clivi, sui colli, ove olezzano tepide e molli, l'aure dolci del suolo natal!”
                Hörte er etwa Gespenster? Stimmten die Verdammten den Gefangenenchor aus Nabucco an? Er wollte eben wie das verlorene Lämmchen nach dem Mutterschaf

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