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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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Lebertran verabreicht worden war oder der unter chronischer Diarrhoe litt. In Simons Fall ergab sich jedoch eine andere Diagnose: der übermäßige Genuß selbstgebrannten Birnbrands und schwer verdaulichen Wurst- und Selchwaren ließ seinen Darm rebellieren. Irgendwann folgte der physischen die psychische Katharsis. In einem somnambulen Zustand der inneren Leere zog er sich an und stakste wie auf Stelzen in die Küche. Um den Durchfall zu stoppen würgte er eine Tafel Blockschokolade und eine Packung Zwieback hinunter und spülte mit zwei Literflaschen Cola nach. Mittlerweile war es später Nachmittag und Simon fühlte wie das Leben langsam in ihn zurückkehrte und das Blut wieder kräftiger zu zirkulieren begann. Der prüfende Blick in den Spiegel bestätigte seine ärgsten Befürchtungen. Sein in Glas gegossenes Gegenüber schien ihm ein gänzlich Unbekannter zu sein. Eine verwahrlost aussehende Jammergestalt, die einem unvoreingenommen Betrachter gleichermaßen Abscheu wie Mitleid einflößte: die Haut von einer unnatürlichen Blässe, die Augen glasig und blutunterlaufen, die Pupillen unnatürlich weit aufgerissen, die Haare verfilzt. Es hätte der Kunstfertigkeit einer versierten Visagistin bedurft, um aus dem Zombie wieder einen Menschen zu machen. Wie sollte er in diesem derangierten Zustand dem Arbinger Pfarrvikar Elmar Angelus Pfleiderer unter die Augen treten? Wie gern hätte er den Ring des Gyges besessen, um unterm Schirm der Zaubermacht unsichtbar zu werden. Simon kehrte seinem Spiegelbild den Rücken, um sich durch die Via Dolorosa des menschlichen Elends zu schleppen: er querte den öd und leer daliegenden Prälatenplatz, kämpfte sich die steile Kirchstiege empor, um wie ein reuiger Sünder an die verschlossenen Türen des Pfarrbüros zu pochen. Simon stellte sich auf eine längere Wartezeit vor der „Himmelspforte“ ein, doch da ging die Tür auf und eine gewaltige, dicht behaarte Pranke streckte sich ihm entgegen:
                „Klopfet an, so wird euch aufgetan! Porta patet – cor magis!“
                Pfleiderer war die Höflichkeit in Person. Der Vikar schien sich aufrichtig darüber zu freuen, den „Merkur-Mann“ in seiner „bescheidenen Bleibe“ willkommen zu heißen. Der Pfarrer war ein gutmütiger Bär von einem Mann. Sein Händedruck war kraftvoll, seine Herzlichkeit ungekünstelt und seine Stimme klang fest und sanft zugleich. Dabei bediente er sich ungeniert der heimischen, schwäbischen Mundart:
                „Setzen Sie sich! Meine Großmutter hat mich immer geschimpft: Bübla, hock dich auf dein Fiedle, das kostet keinen Kreuzer mehr.“
                Pfleiderer lümmelte sich in die Polstermöbel, lächelte gewinnend und schmierte ihm mit charmanter Nonchalance Honig um den Bart:
                „Wisset Sie, ihre Artikel gefallen mir. Engagiert und gut recherchiert. Es gefällt mir, wenn sich jemand traut, auch die unschönen Dinge beim Namen zu nennen.“
                Argwohn und Skepsis zählten zu den Berufskrankheiten eines jeden alerten Pressemanns. Unter den freundlichen, wärmenden Blicken des schwäbischen Bären schwand jedoch sein Misstrauen wie der Schnee im Mai. In aller Bescheidenheit erwiderte er:
                „In jedem Beruf muss man mit Herz und Leidenschaft bei der Sache sein. Ein brisantes Thema, ist ein interessantes Thema.“
                Pfleiderer lächelte übers ganze Lausbubengesicht:
                „Und wer bestimmt was Thema ist und was nicht?“
                Seine Worte wägend, sondierte Simon behutsam das ihm noch unbekannte Terrain:
                „Eine engagierte Berichterstattung muss auch unbequeme, unangenehme Fragen stellen dürfen. Objektivität bedeutet nicht, dass man Konflikten und Kontroversen aus dem Weg geht und das Heil nur im Konjunktiv des Konsens sucht!“
                Ein listiges Funkeln blitzte in den blassblauen Augen des wenig würdevoll auftretenden Würdenträgers:
                „Wisset Sie, wir Pfarrer sind schlechte Auguren! Unser Job ist es, unumstößliche Wahrheiten von der Kanzel zu verkünden. Und über Zweifel und Zwiespälte breitet man den Mantel des Schweigens!“
                Vorsichtig erkundigte sich Simon:
                „Zweifel? Verkündet Jesus im Evangelium nicht: Ich bin die Wahrheit?“
                Pfleiderer lächelte

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