Cruzifixus
blöken, da tauchte plötzlich Pfleiderers Vierkantschädel aus dem Halbdunkel auf:
„Mögen Sie Verdi? Wenn wir hier unten Führungen machen, legen wir eine CD mit gregorianischen Chorälen auf – aber ich kann das ewige „Veni Creator Spiritus“ nicht mehr hören! Wir müssen dort hinüber – zu den Apsiden.“
Ihr Weg führte an in den nackten Fels gehauene Grabnischen vorbei, in denen sich Bein-, Arm- und Schädelknochen türmten. Simon neigte zwar weder zu klaustrophobischen Anfällen noch zu Panikattacken, doch hier unten war ihm alles andere als wohl zu Mute. Das acherontische Ambiente vermochte indes Pfleiderers Redefluss nicht zu hemmen:
„Krypta kommt aus dem Griechischen. „Krypte“ lässt sich in etwa mit geheimen Gewölbe übersetzen. In der Zeit der Christenverfolgungen versteckten sich die Gläubigen in Rom und anderswo in unterirdischen Katakomben. Der lateinische Ausdruck „ad catacumbas“ bedeutet in der Senke und bezieht sich auf eine bestimmte Begräbnisstätte an der Via Appia. Die Kirche verschwand also wortwörtlich in der Versenkung. Im Mittelalter wurden diese Untergrundkirchen, die Krypten zu Coemeterien, zu Grüften erweitert, in denen man Reliquienschreine und Altäre aufstellte.“
Von Decken und Wänden hallten die im schwäbischen Idiom gehaltenen Eröffnungen seines „Schulmeisters“:
„Kurz und gut: Fiore empfängt eine göttliche Offenbarung – und entwickelt daraus die Lehre von den drei Weltzeitaltern. Die Ära des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Bis Christi Geburt regiert Gottvater mit der harten Hand des Hegemons. Sein Äon steht im Zeichen eines rigiden Gesetzes. Darauf folgt die Herrschaft des Sohns, der mit dem Prinzip von Güte und Gnade die Strenge des Vaters abmildert. Wann genau der Äon Christi endet, ist umstritten. Als mögliche Termine der Zeitenwende wurden das Jahr 1300, das Jahr 1666 aber auch das Jahr 2000 genannt. Irgendwann aber bricht die Endzeit an: das tausendjährige Reich des heiligen Geists. In der Ära des Heiligen werden weise, mit der Gabe der Barmherzigkeit und Weitsicht begabte Männer die Menschheit auf den Pfad der Tugend zurück führen. Diese Ära von Alpha und Omega wird durch Flammenzungen und Feuersäulen symbolisiert.“
Simon zog die feuchte, modrige Luft durch die Nase. Man musste keine Matheleuchte sein, um Eins und Eins zusammenzuzählen:
„Und der Pater hat auf das dritte Reich des Geists gewartet?“
Pfleiderer richtete den Lichtkegel des Halogenstrahlers auf eine bisher im Dunkel liegende Wandzone. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort:
„Es gibt Leute, die in ihm einen Propheten der jüngsten, respektive letzten Tage sehen.“
Im Stile eines geistreichen Causeurs jonglierte er mit Worten und bediente sich der fein geschliffenen Klinge der Ironie:
„Jesus hat ein großes Herz. Der reuige Sünder ist ihm ebenso willkommen wie der, der Gott auf Abwegen sucht.“
In seiner Stimme schwang ein sardonischer Unterton:
„Auch ein verirrter Hammel findet den Weg zu den Weiden. Die Hirten des Herrn sollten sich daher in Duldsamkeit und Nachsicht gegenüber Andersdenkenden üben. Die sittenstrengsten Herrscher hielten sich früher Hofnarren die Gesichter schnitten und Possen rießen. Das finstere Mittelalter hatte auch seine lichten Seiten.“
Die CD „Best of Verdi“ war inzwischen über „Aida“ bis zu „Il Trovatore“ gelangt. Der Heldentenor schmetterte à la Caruso:
„Di quella pira l'orrendo foco. Tutte le fibre m'arse avvampò!“
Im Licht des Halogenstrahlers schälte sich ein Fresko aus dem Dämmer. Das schmale, von einer schwarzen Randleiste begrenzte Farbband legte sich wie ein Reif um das Rund der Apsis. Simon platzte heraus:
„Komisch! Das sieht wie ein Comic-Strip aus. Heute würde der Typ vermutlich Illustrationen für ein Manga-Magazin zeichnen!“
Simon beugte sich vor, um Details der Darstellung unter die Lupe zu nehmen. Die Tafeln erzählten eine Moritat in Bildern: ein in Eisen gerüsteter Wolf bewachte ein Burgtor, hielt einen Esel im härenen Gewand des Bauern an,
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