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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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erreicht. Pfleiderer war plötzlich wie ausgewechselt, geriet beim Anblick der in mystischen Farbtönen schimmernden Glasfenster wie ein frisch verliebter Pennäler ins schwärmen:
                „Schauen Sie! Die mystische Rose! Durch Sie erfährt der Glaube seine Verklärung, seine Apotheose! Die visionäre Schau des Überweltlichen manifestiert sich in einer eigentümlichen Bildsprache voller Metaphern und Allegorien. Man muss wie ein Archäologe zu Werk gehen, die Fundstücke an Hand stratigraphischer Analysen einordnen, um zu den untersten Schichten des Glaubens vorzudringen. Nur wer die Zeichen erkennt, versteht in ihnen zu lesen.“
                Andächtig verharrte er vor einem großformatigen Ölgemälde. Über die Jahrhunderte hatten die Farben an Leuchtkraft eingebüßt, waren die Konturen unter einer dicken Schicht Firnis verblasst:
                „Schauen Sie genau hin! Jesus hat seine rechte Hand wie zum Gruß erhoben. Das ikonographische Programm ist jedoch durchaus doppeldeutig. Einerseits drückt sich darin die segnende Geste des Heilands aus, andrerseits spiegelt sich darin der herrschaftliche Gestus des Pantokrators, des Weltenrichters, der kommt, um den Sündern den Marsch zu blasen. Ein in Komposition und Farbgebung außergewöhnliches Werk von Jacopo da Altamonte, der eigentlich Joseph Jakob Altenberger hieß und seinen Namen wohl aus marketingstrategischen Gründen latinisiert hat. Obwohl ich kein Liebhaber des Barocken bin – das Gemälde fasziniert mich. Ursprünglich war es für die Wallfahrtskirche in Hochharting bestimmt. Zweifelsohne handelt es sich um eine Auftragsarbeit. Sehen Sie rechts unten im Eck, die Wappenkartusche der Stifter.“
                Er wischte mit dem Hemdsärmel etwas Staub von der rissigen, schrundigen Oberfläche:
                „Das Sujet ist geschickt gewählt: Jesus, vom Nimbus des Göttlichen umflort, begegnet den Aposteln am See Genezareth. Eine eindringliche Szene: in jenem Moment ist er teils Mensch, teils Gott.“
                Interessiert nahm Simon den pastoralen Hintergrund der Szenerie in Augenschein: in einer üppig grünenden Auenlandschaft scharten sich die Jünger Jesu um ein Lagerfeuer und lagen wie die Schäfer Arkadiens auf der faulen Haut, grillten ein paar Fische, knabberten an Brot und Käse und ließen eine Korbflasche herumgehen. Pfleiderer dozierte derweil im Brustton des Messias-Mentors:
                „Der Fisch war das geheime Erkennungszeichen der frühen Christen! Dazu sprach man die rituelle, aramäische Begrüßungsformel: Maranatha! Unser Herr komme! Denn er weilt ja bei der Feier der Eucharistie unter uns.“
                Schlagartig bekam Pfleiderers vor Begeisterung rau gewordene Stimme einen nüchtern, bestimmenden Beiklang:
                „Altamonte ist erst der Anfang! Hier geht’s runter! Passen Sie auf, wo Sie hin treten, die Stufen sind ziemlich glatt.“
                Tapfer tappte Simon eine steile Steintreppe hinab. Er hatte erhebliche Mühe seinem ihn vorauseilenden Führer in die Unterwelt zu folgen. Unten angekommen schaltete Pfleiderer zwei Halogenstrahler ein:
                „Seit einem halben Jahr warte ich darauf, dass die Herrn vom Denkmalschutz endlich mit der Bestandsaufnahme beginnen.“
                Das auf eine bestimmte Wandzone in der Apsis konzentrierte Licht ließ Simon die Größe des unterirdischen Raums nur erahnen. Pfleiderer bückte sich und zog unter einigen Anstrengungen einen kastenförmigen, augenscheinlich aus einem massiven Material wie Stein oder Metall gefertigten Gegenstand unter dem Altartisch hervor. Dabei strahlte er übers ganze Gesicht, so als ob er in den Ruinen Trojas unverhofft auf die Fußknochen des Achilles gestoßen war. Pfleiderer blähte seine Backen auf, pustete zwei-, dreimal und wirbelte dabei mächtig Staub auf. Ehe Simon inmitten der Staubwolke noch irgendetwas erkennen konnte, hub sein mitteilsamer Begleiter zu einer ausführlichen Erklärung an:
                „Wissen Sie, dass ist typisch für unsere Zeit. Für den Erhalt unseres Kulturerbes ist nie Geld da! Da legt man die nassen Wände trocken, stützt die Decken ab, aber eine grundlegende Sanierung…“
                Müde wiegte er sein Gelehrtenhaupt:
                „Aber was sage ich! Hier sehen Sie eine echte Rarität. Ein Ossuar aus der Zeit der

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