Cruzifixus
schelmisch:
„Wie pflegte Pontius Pilatus zu sagen: Was ist Wahrheit?“
Simon quittierte die salomonische Antwort mit einem einnehmenden Lächeln. Der Arbinger Pfarrvikar schien ein mit Humor begabter Beobachter zu sein, der einen Sinn fürs Ironische besaß. Ein Blick in sein „Curriculum Vitae“, eine oberflächliche Recherche im Web hatte Simon genügt, um sich ein grobes Bild von Pfleiderers Ansichten und Absichten zu machen: der Pfarrvikar war erst seit einem knappen Jahr in Arbing. Die Zeit hatte er weidlich genutzt, um sich bei seinen Vorgesetzten und Amtskollegen ins Fettnäpfchen zu setzen, indem er unausgesetzt Reizthemen aufgriff und sich als undogmatischer Liberaler gerierte, der für den interkonfessionellen Dialog mit Islam und Judentum eintrat. Pfleiderer kreuzte die Arme über der Brust:
„Wahrheit ist ein ebenso scharfes wie zweischneidiges Schwert.“
Erneut flammte ein listiges, levantinisches Lächeln um seine ausgeprägt sinnlichen Lippen. Simon blickte versonnen zum Fenster hinaus. Es war an der Zeit, dass Gespräch in die gewünschten Bahnen zu lenken und zum Thema, zum Eremiten von Hochharting, zu kommen. Er vermied es jedoch mit der Tür ins Haus zu fallen:
„Die Wahrheit hat stets zwei Seiten.“
Das rundliche, pausbackige Gesicht des Pfarrvikars verzog sich zum Ausdruck verwunderten Erstaunens:
„Spielen Sie auf den Dualismus der Dialektik an, auf den Antagonismus von Schwarz und Weiß, Gut und Böse? Wisset Sie, ein Finsterling wie Luzifer ist ja keine real existierende Gestalt, sondern eine Chiffre der menschlichen Ängste. Eine stereotype Figur von Schuld und Sühne. Jesus ist hingegen ein wahrer Mensch – der jedem in seinen Ängsten und Träumen begegnet.“
In Pfleiderers Miene lag ein noch immer freundlicher, aber bestimmterer Ausdruck:
„De hoc satis! Sie sind gewiss nicht hier, um über das Wesen von Gut und Böse zu spekulieren. Was kann ich für Sie tun?“
Ein erwartungsvolles Lächeln milderte den Ernst seiner Stimme. Kurz entschlossen deckte Simon die Karten auf:
„Es geht um Pater Ägid. Vielleicht können Sie mir helfen, dessen Anschauungen besser zu verstehen. Diese epigraphischen Paulus-Briefe, diese Sendschreiben an Philipper und Philister, diese „Monita secreta“ mit missionarischen Aplomb – ich sehe da keinen rechten Sinn darin. Unter ihren Amtskollegen gibt es einige, die Frater Ägid zum messianischen Neurotiker und dementen Dorfdeppen stempeln. Ich bin wahrlich kein Fachmann in theologischen Fragen. Es scheint mir aber, als ob die Schriften des Paters die Lehren diverser endzeitlicher Sektierergruppen wie der Albigenser, Waldenser oder Adamiten reflektieren. Ich würde mich hüten, ihren ehrenwerten Mitbruder in die Nähe von Ketzern zu rücken, sehe aber durchaus gewisse Parallelen. Könnte man den Pater ihrer Meinung nach als Dissidenten bezeichnen?“
Pfleiderer legte den Kopf schief:
„Ein Kritiker ja, aber ein Abweichler? Nein, da irren Sie sich: Pater Ägid ist weder ein Irrer, noch ein Häretiker. Um ihn zu verstehen, muss man den Hintersinn, das Konnotat aus seinen Schriften herauslesen. Kommen Sie, ich will ihnen etwas zeigen.“
Mit einer Behändigkeit, die er den beleibten Gottesmann nicht zugetraut hätte, schnellte Pfleiderer aus dem Sessel und bedeutete ihm mit südländischem Gestikulieren ihm zu folgen.
Ihre Schritte hallten von den himmelsstürmerisch aufragenden Kirchwänden. Pfleiderer hielt sich nicht lange mit kunstsinnigen Betrachtungen auf und überließ es Simon die im Licht der Nachmittagssonne in Gold-, Kupfer- und Silbertönen aufglänzenden Meisterstücke der Schnitz-, Stuck- und Goldschmiedekunst zu bestaunen. Sein Cicerone bemerkte nur in abgeklärt, abfälligem Tonfall:
„Wisset Sie, das Barock ist nicht mein Ding. Bombast und Protzerei sind mir zuwider. Von dem ganzen Dekorum wird der Glaube begraben.“
Dabei fuchtelte er unablässig mit den Armen herum, so als ob es einen gefräßigen Heuschreckenschwarm zu verscheuchen gelte. Der Pfarrvikar führte ihn hinter den Hochaltar. Der ehemals den hier lebenden Mönchen vorbehaltene Bet- und
Weitere Kostenlose Bücher