Cruzifixus
entpuppten sich die stecknadelgroßen Körnchen als ein Schwarm von winzigen Eilanden, Inselchen und Riffen. Irritiert rieb sich Simon die Augen. Neckte ihn ein Trugbild, narrte ihn eine Fata Morgana? Mit der Rechten schirmte Simon seine Augen gegen das vom Fenster – oder war es ein Bullauge – her einfallende Morgenlicht. Es bedurfte etlichen Stirnrunzelns bis er begriffen hatte, dass er sich nicht an Bord eines U-Boots befand. Nein, dies war nicht die karge Kajüte des Kaleus, sondern das Gemach einer allem Anschein nach weiblichen Person. Aus unerfindlichen Gründen fiel es ihm schwer den Blick von dem neben dem Himmelbett befindlichen Leuchtglobus und damit von Madagaskar zu wenden. Ehe sich seine beiden Hirnhemisphären über die ewigen W-Fragen, über Wo, Wann und Wie einig werden konnten, stand plötzlich Vroni in der Tür. Auf dem malvengrünen Frotee ihres Morgenmantels ringelten sich rotgoldene Löckchen, um ihr Handgelenk spannte sich ein silbrig glänzender Armreif und um den Schwanenhals schlang sich ein Kettchen aus edlem Geschmeide. Verwundert rieb sich Simon die Augen. Träumte oder wachte er? Hatte sich Vroni in die gute Fee von Xanadu verwandelt. Sie gurrte wie ein liebestolles Turteltäubchen:
„Aufstehen mein Prinz, der Kaffee ist fertig!“
Simons Alarmglocken schrillten. Mit rauer Reibeisenstimme krächzte er:
„Wie bitte? Verarscht du mich?“
Die Märchenmaid lockte ihn mit einem verführerischen Lächeln:
„So wie du ihn am liebsten magst: Schwarz wie die Nacht, heiß wie die Leidenschaft, süß wie die Sünde.“
Auf unsichtbaren Flügeln flatterte die Fee davon. Simonb kratzte sich am Hinterkopf. Was führte Vroni im Schilde? Dieser laszive Look, dieses Gezwitscher, all das Glitter und Talmi passten einfach nicht zu ihr. Mit der verdrossenen Miene eines von der Gastritis geplagten Galans schlüpfte er aus den Federn. Was war mit Vroni passiert? Was war überhaupt gestern Abend geschehen? Simon konnte sich nicht mehr erinnern, in seinem Gedächtnis klaffte eine Lücke von 4 bis 5 Stunden. Litt er an partieller Anamnese oder hatte ihm jemand K.O.-Tröpfchen in den Wein geträufelt? Simon hockte wie ein Häufchen Elend am Bettrand, unfähig aufzustehen. Sein Schädel dröhnte wie eine Glocke unter den Schlägen eines eisernen Klöppels, seine Kehle war ausgedörrt wie der australische Busch nach einer lang anhaltenden Trockenperiode. Endlich erhob er sich, schlüpfte umständlich in seine Cordhose und taumelte ins Bad. Ohne Rücksicht auf die Katze in ihm, hielt er seinen Brummschädel unters kalte Wasser. Stück für Stück kehrte er die Bruchteile seiner Erinnerung zusammen: da war romantische Musik, da war der intensive, aromatische Duft nach schwarzen Trüffeln und schwerem, würzigen Rotwein. Doch was kam dann? Hatten sie sich in der Hitze der Nacht die Kleider vom Leib gerissen, vor Lust stöhnend das Salz von der Haut geleckt? Waren sie wie zwei ausgehungerte Wölfe übereinander hergefallen? Waren ihre Masken mit den Hüllen gefallen? Simon wusste es nicht, wusste noch nicht einmal, ob ein solches Szenario im Bereich des Möglichen lag. Verdrossen stand er vor seinem Spiegelbild und betrachtete es aus der Distanz des kritischen Beobachters: ein Adonis, ein Traummann sah anders aus. Sein Hosenbund spannte, an Bauch und Hüften hatte er kräftig Speck angesetzt und selbst das Piratenbärtchen konnte sein fleischiges Doppelkinn kaum mehr verbergen. Was war nur aus dem gertenschlanken Jüngling, dem Mädchenschwarm von einst geworden, der Bedarf zum Romantiker mutierete und mit ironischem Lächeln die Gedichte aus dem Lyrikbändchen für den Deutsch Grundkurs parodierte:
„Warum Geliebte denk ich dein auf einmal nun mit tausend Tränen und kann gar nicht zufrieden sein und will die Brust in alle Weite dehnen!“
Einst hatte er um die Magie der Melancholie gewusst und um die süchtig machende Macht des Sehnens und Wähnens:
„Was soll mir dieser Blick? Sie küsst mich zwischen Lieben noch und Hassen, sie kehrt sich ab und kehrt mir nie zurück.“
Wurde er Zeuge eines Mutationsprozesses, einer Metamorphose des weiblichen Wesens? Auf dem Küchentisch wartete ein Vier-Sterne-Frühstücksmahl auf ihn. Vroni säuselte wie der Chor der Chariten:
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