Cruzifixus
Friedhof!“
Simon erinnerte sich nur ungern an die Szene am Grab, an das abweisende, despektierliche Verhalten der alten Kräuterhexe:
„Ja und?“
Über Vinzenzens Stimme lag ein dunkler Schleier:
„Weißt, die Tante Burga hat viel mitmachen müssen. Zwei ihrer Brüder sind im Krieg geblieben! Und danach hat Sie es auch nicht einfach gehabt. Ihr Mann war ein richtiger Sauteufel, der tagelang im Wirtshaus gehockt und jedem Rock nachgestiegen ist. Sie hat sich derweil am Hof abgerackert und nebenbei den Ägid versorgt - aber die Herren der Schöpfung haben es ihr nicht gedankt. Weder der alte Schnallentreiber, noch unser großer Meister. Für den waren die Weibsbilder ja Geschöpfe des Satans!“
Simon hörte nur mit halbem Ohr zu, duckte sich unter den Peitschenhieben herabhängender Äste und Zweige:
„Der Älteste, der Rupert, sollte den Hof daheim erben! Nach dem Erbhofgesetz hätte er also nicht zum Militär müssen. Nährstand mehrt Wehrstand – wie es damals hieß! Irgendjemand hat ihn jedoch bei der Gestapo hingehängt, dass er mit Schmuggelware gehandelt und hintenrum Geschäfte gemacht hat. Da haben Sie den Bertl vor die Alternative gestellt: Dachau oder Ostfront!“
Simon krabbelte über einen quer liegenden, vom Sturm gefällten Baumstamm und murmelte einsilbig:
„Ah ja!“
Vinzenz war indes nicht zu bremsen:
„Der jüngere, der Kolo war ein anderes Kaliber. Ein schneidiger Bursch, der sich vor nichts gefürchtet hat – nicht vor den Weibern und nicht vorm Teufel!“
Dornenranken und Brennnesseln schlangen sich um Simons Beine. Der lange Fußmarsch steckte ihm in den Knochen:
„Was du nicht sagst! Vielleicht hätte er sich vor den Nazis fürchten sollen!“
Das Rauschen des Wasserfalls war mittlerweile unüberhörbar, mischte sich unter die Geräusche des Waldes:
„Die beiden Brüder haben sich zum verwechseln ähnlich geschaut! Dabei waren sie grundverschieden. Der Koloman war ein richtiger Wildfang, der wie eine Gams die steilsten Wände hinauf ist! Der Ägid ist immer am Rockzipfel der Mama gehangen - ein Hosenscheißer vor dem Herrn! Schon als Bursch hat er zwei Linke für die Arbeit gehabt. Deswegen sollte er und nicht der Kolo zum Militär. Der Herumtreiber wollt partout nichts vom Nährstand wissen und zwischen Misthaufen und Saustall versauern. Über Nacht ist er von zu Hause weg und hat sich freiwillig zur SS gemeldet. Darum durfte der Ägid am Hof bleiben, aber anstatt am Feld draußen Kartoffel zu klauben hat er beim Pfarrer die Sprüche Salomos auswendig gelernt. Der Rupert ist bei den Abwehrkämpfen am Don gefallen und der Kolo wurde nach dem Krieg als vermisst gemeldet. Das hat dem alten Hallhofer endgültig das Genick gebrochen!“
Der Umstand, dass er sich durch ein ihm Zwielicht liegendes Dickicht kämpfte, erschien Simon wie ein Gleichnis: noch ergaben die einzelnen Puzzleteile keinen rechten Sinn, noch vermochte er aus schemenhaften Umrissen die Protagonisten des Dramas zu formen, noch erschloss sich ihm der logische Zusammenhang einzelner Ereignisse. Es war die uralte Frage nach Ursache und Wirkung, nach Henne und Ei. Was war zuerst da? Er kam sich wie ein Medikus des Mittelalters vor, der die gelblich, fahle Haut eines Sterbenskranken betastete, Geschwüre und Pusteln mit Heilsalben bestrich, dem Siechen seine Arzneien verabreichte und doch hilflos zusehen musste, wie sein Patient in die Agonie des Todes verfiel.
Vinzenz war ihm ein ganzes Stück weit voraus. Simon hastete hinterher, brach wie ein wütender, einen Nebenbuhler witternder Keiler durchs Unterholz. In seinem Kopf schwirrte ein aufgeregter Hornissenschwarm. Er sah wie sich ein riesiger Haufen von Mosaiksteinchen vor ihm auftürmte, Stücke eines Puzzles, die sich zu keinem Phantombild, zu keinem Mandala des Mörders fügen wollten. Vinzenzens Erzählung von den ungleichen Brüdern, die sich äußerlich so ähnlich sahen, hatte ihn stutzig werden lassen, hatte ihn ins grübeln gebracht. Lebte am Ende der Vermisste noch? Gab es am Ende zwei Eremiten? Einen Hasardeur und einen Hasenfuß? Ein gefährliches Individuum, das zu allen Schurkereien fähig war und
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