Cruzifixus
ein sonderbares Subjekt, dass sich Zeit seines Lebens hinterm Beichtstuhl verkrochen hatte? Es kursierten Hunderte von Detektivgeschichten in denen Doppelgänger und Zwillingspärchen eine entscheidende, höchst undurchsichtige Rolle spielten. Vielleicht bildete er sich das alles ja nur ein. Und wenn nicht? Wer wartete dort draußen auf ihn? Hatte er es mit einem von Saulus zum Paulus konvertierten Wahnsinnigen oder mit einem frömmlerischen, kriecherischen Knecht Gottes zu tun? Um das herauszufinden, musste er mehr über seinen Gegenspieler in Erfahrung bringen, musste er den Eremiten sprechen. Simon pflügte wie ein zum äußersten entschlossener Eber durch mannshohe Farnfelder. Vinzenz winkte ihn heran, deutete nach unten und rief ihm zu:
„Da ist der Achenfall!“
Eine Erklärung, die im höchsten Grade überflüssig war. Das Rauschen des über Felsklippen schäumenden Wassers war nicht zu überhören. Als Simon den dichten Blättervorhang zur Seite schob, öffnete sich vor ihm das Rund eines von Urkräften erschaffenen Amphitheaters. Nach Süden hin bildeten übereinander geschichtete Felsblöcke eine natürliche Tribüne, die genügend Platz für eine Versammlung der Bergriesen bot. Nach Norden hin klaffte eine Lücke in der Felsmauer. Dahinter lag ein bodenloser Abgrund in den sich die Wasser unter donnerndem Gebrüll ergossen. Der Zeigefinger seines Führers wies eben in jene Richtung. Simon kniff die Augen zusammen: auf einem der Felsblöcke kauerte eine im Dämmerlicht kaum als solche zu erkennende Gestalt. Der Eremit hatte ihnen den Rücken zugekehrt und starrte in den Höllenschlund hinab. Als ob spürte, dass er beobachtet wurde, wandte er seinen Kopf. Im näher kommen erkannte Simon, dass sein Schädel kahl geschoren war und er den grau-braunen Habit eines ihm unbekannten Mönchsordens trug. Mit überraschend kräftiger Stimme brüllte er:
„Wer ist da?“
Vinzenz räusperte sich laut vernehmlich und sprach beruhigend auf den Alten ein:
„Ich bin’s, der Vinz! Was machst du denn dort droben? Meditierst? Komm, es wird gleich dunkel.“
Der Eremit kreischte mit überschnappender Stimme:
„Bleib wo du bist! Wer ist der andere da bei dir? Will er mich holen kommen?“
Vinzenz machte Simon ein Zeichen, hinter ihm zu bleiben und sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Der Eremit richtete sich auf, stelzte auf seinen dünnen Storchenbeinchen in gefährlicher Nähe des Abgrunds herum:
„Bist du es Satanas? Ich habe schon auf dich gewartet!“
Vinzenz wölbte die Hände um den Mund und formte so eine Art Megaphon:
„Jetzt spinn dich aus! Das ist doch der Herr von der Zeitung. Er ist hier um mit dir zu reden, um die Wahrheit von dir zu hören!“
Aus der Kehle des Eremiten drang heiseres, fast hämisches Gelächter:
„Die Wahrheit, so! Es gibt keine Wahrheit außer in Gott! Doch weh uns, die wir den Herrn verraten haben! Die neun Pforten werden sich auftun und die Heerscharen Satans brechen aus der Höllenfeste hervor! Gnade uns Gott, stehe uns Jesus bei! Gepriesen seiest du, du Sohn der Jungfrau – du Helfer in der Not!“
Seine Stimme erhob sich in Schwindel erregende Höhen:
„Kehrt um und tuet Buße, ehe es zu spät ist. Das Reich des heiligen Geistes ist gekommen. Lob und Ehre und Preis sei dem Lamm, das hinweg genommen hat die Sünden der Welt!“
Vinzenz wurde langsam ungeduldig:
„Komm jetzt! Lass uns in aller Ruhe drüberreden!“
Wie ein Teufel, den man auf den Schwanz getreten hatte, heulte der Eremit auf:
„Sehet das Kornfeld, es trägt reiche Frucht. Sehet die Halme, sie biegen sich im Wind. Die Zeit ist reif, zu ernten was ihr mit Tränen gesät habt!“
Simon runzelte die Stirn. Was sollte er von der wirren, mit biblischen Bildern garnierten Gardinenpredigt halten? Sollte diese Jammergestalt der Kopf einer Fanatiker-Bande sein? Hatte diese klapperdürre Vogelscheuche das Zeug zum Mörder? Er musste sich Klarheit verschaffen, musste es wissen:
„Seien Sie doch vernünftig, Frater Egidius! Ich
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