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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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Emotionen wie Furcht, Begehren oder Schrecken erregenden Bildern gelang es, die Pforten der Wahrnehmung zu überwinden und sich im Unterbewussten einzunisten. Bücher köderten den Leser mit Bildern, die Spannung erzeugten, die Emotionen entfesselten. Die wahre Kunst des Literaten bestand darin, die Handlung, das „poetische Pragma“, in Szenen und Sequenzen zu zerlegen und den Plot durch die Kraft dieses Bilderstroms voranzutreiben. Eine Erzählung ähnelte einer Expedition in ein unbekanntes Land. Durchs Labyrinth der dramatischen Mimesis zog sich ein roter Faden, um darin nicht gänzlich die Orientierung zu verlieren. Der Weg des Erzählens war der des Pilgers. Ein Weg, der zwischen Brüchen und Brachen verlief, kahle Kuppen streifte, sich durch finstere Engpässe zwängte, um am Ende das Sanktuarium von Santiago zu erreichen. Der Weg war das Ziel jeder Pilgerschaft. Der Wanderer in der Wüste der Worte erlebte das Wunder der Katharsis und wurde Zeuge jenes mystischen Moments, da sich die Wolken teilten und die Gestade des Paradieses sichtbar wurden.
                Vor ihm verengte sich die Fahrbahn auf zwei Spuren. Der nasse Asphalt reflektierte das Signalrot der Bremslichter. Simon ging vom Gas:
                „Diese Scheißbaustellen! Wann werden die hier mal...“
    Noch ehe er den Satz beenden konnte, scherte unmittelbar vor ihm ein Sattelzug ohne auch nur ansatzweise zu blinken nach links aus. In einer Instinktreaktion trat er das Bremspedal bis zum Anschlag durch. Simon spürte wie er zum hilflosen Spielball gewaltiger, an Eigendynamik gewinnender Kräfte geriet. Er wurde in den Gurt gepresst, sah vor sich auf dem Armaturenbrett ein Warnlämpchen aufblinken, registrierte im selben Moment, dass das Heck ins schlingern, der Wagen ins schlittern geriet. Aquaplaning! Die Angst brannte sich mit glühenden Brandeisen in seine Hirnrinde. Seine Nackenhaare richteten sich auf wie die Piken einer zum Angriff übergehenden Schlachtphalanx. Krampfhaft hielt er das Lenkrad umklammert, versuchte die heftige Schlingerbewegung abzufangen. Die Sekunden schienen sich zu dehnen wie ein sich immer weiter abwickelndes Rettungsseil. Endlich griffen die Pneus, endlich bekam er den mit den Hufen ausschlagenden  Mustang unter Kontrolle, entlud sich die Anspannung in einem heftigen Fluch:
                „Kruzifix, diese Scheiß Kamikazepiloten! Wenn ich Pech hab, hör ich die Cherubim im Himmel frohlocken!“
     
    Langsam fiel die Spannungsstärke im neuronalen Netz unter das kritische Niveau. Das Zittern der Hände, das nervöse Zucken der Lider ließ nach. Ein paar Kilometer weiter hatte sich Simon so weit im Griff, dass er sich das Band noch einmal anhören und die Story aus einer gewissen Distanz heraus betrachten konnte. Wie tragfähig war das Grundgerüst, wie stand es um die Konsistenz und Kohärenz der Kerngedanken? Simon zog seine Stirn kraus: Der Kaiphas-Komplott? War das nicht zu viel des Guten? Klang das nicht zu sehr nach plattem Plot, faulen Kulissenzauber und kalkulierten Knalleffekt? Zögernd betätigte er die Aufnahme-Taste:
                „Wer war Jesus? Ein Alchemist oder ein Anarchist, ein Phantast oder ein Provokateur, ein Irrwisch oder ein Irredentist, der für ein vereinigtes Großgaliläa focht? Hatte er insgeheim mit Pontius Pilatus paktiert, war er ein von den Römern bezahlter Kollaborateur, der mit seiner Botschaft von der selbstlosen Nächstenliebe und der Vergebung der Sünden die rebellischen Massen aufs Jenseits vertrösten und von einem Aufstand gegen die römischen Besatzer abhalten sollte?“
                Nach zweitausend Jahren war es unmöglich, sich ein authentisches Bild vom Messias zu machen. Paradoxerweise gerade deswegen, weil es über den Mann aus Nazareth Material in Hülle und Fülle gab: den charismatischen Prediger und hellsichtigen Visionär der kanonischen Evangelien, den Volksverhetzer und Sektierer der rabbinischen Schriften, die übermenschliche Lichtgestalt des von Gott gesandten „Chrestos“. In der theologischen Literatur, in der ikonographischen Kunst gab es den Topos des Trösters und Erlösers, des Weltenrichters und Pantokrators, des Gemarterten und Gegeißelten, dazu die idealtypischen, symbolistisch, synthetischen Kunstfiguren des Lamm Gottes, des Löwen von Juda, des Menschensohn, des Messias und Heilands. Neutestamentler und Altertumskundler, Archäologen und Papyriologen, Exegeten und Epigraphiker stocherten in

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