Cruzifixus
Sternchen – mithin die Zahl der Apostel. Und wie ich das sehe enthält die Seriennummer einen von da Vinci verschlüsselten Geheimcode, oder?“
Sein Vis-à-vis lächelte hintergründig:
„Nicht schlecht der Specht. Du wirst noch! Aber schau genau hin. Was siehst du? Die steinerne Brücke, den Pont du Gard. Ein römischer Triumphbogen, ein mittelalterliches Klosterportal. Und klingelt es im Hinterstübchen?“
Simon glotzte ihn aus großen, verständnislosen Kalbsaugen an. Worauf wollte Vinzenz hinaus? In der Stimme des „Meisters“ schwang ein beschwörender Oberton:
„Auf den Scheinen sind ausschließlich Bauwerke und architektonische Details zu sehen. Und welche Organisation sieht sich in der Tradition der Baumeister der Pyramiden und des salomonischen Tempels? Wer trägt Zirkel und Winkelmaß im Wappen?“
Simon kratzte sich den Bart und deduzierte logisch einwandfrei:
„Die Freimaurer!“
Vinzenz schien nahe daran ihm am Ohrläppchen zu zwicken:
„Erraten! Die Freimaurer, die Architekten der Ewigkeit! Sie diktieren seit Jahrhunderten das Geschehen und schreiben die Geschichte nach ihrem Gusto. Ihre Strohmänner sitzen in den Schlüsselpositionen: in Vorstandsetagen und Zentralbankräten! Jedes Mitglied schuldet den Geheimen Oberen bedingungslosen Gehorsam und verpflichtet sich über die Aktivitäten der Loge absolutes Stillschweigen zu bewahren. Geheimhaltung ist ihr oberstes Gebot, schon um zu verhindern, dass ihre konspirativen Zellen von Agenten der Gegenseite infiltriert werden.“
Wummernde Bässe hämmerten auf ihn ein, in seinen Ohren surrte, in seinen Kopf schwirrte es. Befanden sich die Dunkelmänner, die „Männer in Schwarz“ mitten unter ihnen? War Bad Erchtenhall der Sitz von Bruderschaften und Geheimbünden? Lag das Epizentrum des Welt erschütternden Bebens im Virgilswinkel? Fast glaubte er es. Simon wiegte das „Gralsglas“ in der Hand und kippte den schauerlich schmeckenden Inhalt hinunter. Ab einem gewissen Punkt vermischten sich Fakt und Fiktion, wuchsen sich die eigenen, bizarren Phantasiegebilde zu Chimären aus, blähte sich eine halbseidene Figur wie Paintinger zum Popanz auf. Wer den Teufel an die Wand malte, durfte sich nicht wundern, wenn er anklopfte:
„Lucifer ante portas!“
Das Diarium des Diabolus
Sanguine fundatum est hoc regnum, sanguine coepit, sanguine succrevit, sanguine finis erit. Dieses Reich wurde auf Blut errichtet, das vergossene Blut ließ es groß werden und in einem Meer von Blut wird es zu Grunde gehen.
Hatte Paintinger Blutschulden auf sich gehäuft? Hatte jemand eine alte Rechnung beglichen? War er prophylaktisch beseitigt worden? Simon blätterte in einer kleinformatigen, mit Goldschnitt verzierten Anthologie und suchte nach geflügelten Worten, kuriosen Paradoxa und geistreichen Apercus. Warum war Paintinger zum Abschuss freigegeben worden? War er jemand ins Gehege gekommen? Hatte er in fremden Revieren gewildert? War er zu mächtig, zu selbstgefällig und überheblich geworden? War er das Opfer eines blutigen Rachefeldzugs, eines Bandenkriegs, einer Art Vendetta im Virgilswinkel? Immer neue Fragen türmten sich vor ihm auf wie die Felsmassen der Eigernordwand. Das dünne, sich wie Seide anfühlende Papier raschelte zwischen seinen Fingern. Endlich wurde er unter den Aphorismen Oscar Wildes fündig:
„Kein Verbrechen ist vulgär, aber Vulgarität ist ein Verbrechen.“
Vulgär hin, banal her. Um welche Art von Verbrechen handelt es sich hier überhaupt? Um einen von langer Hand vorbereiteten „Mafia-Mord“, um einen kaltblütig geplanten Racheakt, um die Triebtat eines Psychopathen, der sich an der Ästhetik des Abnormen berauschte und dem Pathos des Pathologischen frönte? Das menschliche Gehirn war und blieb ein Abgrund, in dem das Absonderliche und Abseitige lauerte. Auf dem Substrat verfinsterter Seelen und morbider Geister gediehen die Blumen des Bösen. Im fauligen, modrigen Dickicht des Diabolischen schlug das Tierische, Triebhafte immer neue Triebe und verästelte sich zu einem unsichtbaren, chthonischen Geschwür von schier infinitesimaler Ausdehnung. Noch tappten die Ermittler im Fall Paintinger jedenfalls im Dunklen. So blieb ihm als Vertreter der
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