Cruzifixus
ausklammern. Man konnte Äpfel und Birnen nicht vergleichen, Geist und Materie blieben ihrem Wesen nach inkommensurabel. Die Gedanken- und Gefühlswelten waren deshalb ein unerschlossenes Gebiet, die Topographie des Gehirns war trotz Kernspin- und Computertomographie ein weißer Fleck auf der Landkarte der exakten Wissenschaft. Was bedeute es, aus „dem Bauch heraus zu handeln“, „ein gutes Gefühl bei einer Sache zu haben“, „seinem Glücksstern zu vertrauen“? Wieso wurde jemand zum Asketen, Apostel oder Attentäter? Was ließ ihn zum Messias oder zum Mörder werden?
Vor ein paar Wochen hatte Simon fürs Feuilleton einen Artikel über die neue Ausstellung im Münstermuseum von Bad Erchtenhall geschrieben. Der Kurator hatte ihn durch die Räume herumgeführt, ihm die wertvollsten Exponate, alte Klosterhandschriften, Missale, Graduale, Breviere und Gebetbücher gezeigt. Besonders stolz war der Kurator auf einen um 1470 in Kloster Hohenhaslach verfertigten Wiegendruck, einen Kommentar zur Johannes-Apokalypse gewesen. Die Inkunabel enthielt einen Zyklus von Holzschnitten, die eine Art moralisierende Moritat erzählten: ein Rechtsgelehrter mit langem Bart wanderte mit seinem Pilgersack über der Schulter von Stadt zu Stadt. Er mischte sich unters Volk, blickte Geldverleihern und Beutelschneidern, Domherren und Dirnen, Kaufleuten und Wegelagerern bei ihren Geschäften und Verrichtungen über die Schulter. Er wurde Zeuge von Völlerei und Schwindelei, Raub und Notzucht, Hurerei und Schurkerei, Hinterlist und Heimtücke, Schand- und Mordtaten. Und er führte Buch, füllte Seite um Seite. Es kam wie es kommen musste: am jüngsten Tag präsentierte der Advocatus Diaboli den Gesetzesbrechern ihren „Sündenkatalog“. Unermüdlich wogen die Engel der Gerechtigkeit gute und schlechte Taten gegeneinander ab. Die Waagschale senkte sich – und unter der erdrückenden Last der Sünden huben die Missetäter zu Jammern und Wehklagen an. Jesus saß indes mit der gestrengen Miene des Weltenrichters ungerührt auf dem Richtstuhl, hob sein Schwert und fällte das drakonische Urteil: Verdammt in alle Ewigkeit! Zu den Füßen der Verurteilten öffnete sich ein schwarzer Abgrund. Eine Schar teuflischer Monstren stürzte sich auf die Unglücklichen, von panischem Entsetzen Ergriffenen. Mit einem maliziöses Lächeln schloss der Advokat die Akten: das Gericht Gottes war die letzte Instanz. Berufung ausgeschlossen.
Fröstelnd schloss Simon die Balkontür. Die leidige Hausarbeit wartete – aber er ließ sie warten. Stattdessen starrte er zum Fenster hinaus. Die Felder dampften vor Feuchtigkeit. Sein Haus lag an einem Hügel, etwas außerhalb des Dorfs. Ein mit Kies und Schotter befestigter Feldweg zerschnitt die mit Stacheldraht umzäunten Kuhkoppeln. Braunscheckige Milchkühe trotteten gemächlich durch den knöcheltiefen Morast, rupften Büschel um Büschel des saftigen Grases ab.
Simon presste seine Stirn an das wohltuend kühle Glas. Er erinnerte sich noch genau an die Zeit als er oft stundenlang am Küchenfenster gestanden und Ausschau nach Tante Theres und Onkel Schorsch gehalten hatte. Die beiden hatten selbst keine Kinder gehabt und deswegen ihren Lieblingsneffen mit selbst gebackenen Plätzchen, Marzipankugeln oder Nougatröllchen verwöhnt. Und in der Adventszeit kam der „Nikolo“ zu ihnen in die Stube – während der Krampus draußen im Schnee warten musste. Der heilige, in einen dicken Winterpelz gehüllte Mann wies einige verdächtige, physiognomische Ähnlichkeiten mit Onkel Schorsch auf und schüttete jedes Jahr einen Jutesack voller Geschenke und süßer Spezereien wie ein Füllhorn vor ihm aus. Für ihn war der Nikolo viel wichtiger als das Christkind gewesen. Denn der gutmütige, bierbäuchige Bischof mit riesigem Rauschebart war viel greifbarer, als das angeblich von einer Aureole aus hellem, güldenem Licht umglänzte Himmelskind, dass sich doch nie sehen ließ. Schon als Kind hatte Simon genau wissen wollen, woher denn der Nikolaus und das Christkindl kamen, wie es denn nun auf Erden und im Himmel zuging. Sein Großvater, der „Lois“, hatte wunderschöne, wundersame Geschichten gewusst, in denen die braven Kinder von guten Feen beschützt wurden und die bösen Zauberer als Felsblock oder als Spitzmaus endeten. Er hatte ihm versichert, dass ein Schutzengel über ihn wachte und den „Deife“ vertrieb. Später waren Simon allerdings Zweifel gekommen, ob
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