Cruzifixus
schleppte den im Halbdelirium vor sich hin murmelnden ins Warme. Er zog dem am ganzen Leib zitternden die klammfeuchten Kleider aus, rieb Brust und Rücken mit warmen Tüchern trocken. Er reinigte und verband die Blessuren und Platzwunden an Stirn und Hinterkopf. Da platzte es in ohnmächtiger Wut aus ihm heraus:
„Wieso dürfen diese Teufel das tun? Wo bleibt da die göttliche Gerechtigkeit? Und wo war dein Schutzengel?“
In den wässrigen Augen des Alten hatte es zornig gefunkelt:
„Es kommt vor, dass die Engel zu spät kommen!“
Damals hatte er nicht recht begriffen, was sein Großvater ihm damit sagen wollte. Von da an war er jedoch zur Erkenntnis gelangt, dass man sich im Ernstfall auf niemanden, noch nicht einmal auf seine Schutzengel verlassen konnte.
Das Sauwetter schien die Kühe auf der Weide nicht zu bekümmern. Ihre Schwänze wackelten vergnügt hin- und her, ihre breiten Triefmäuler machten sich mit wahrer Wonne über das frische Grünzeug her. Eine der Muhdamen spreizte lässig ihre Hinterbeine und ließ den Dingen des Darms ihren Lauf. Eine breiige Masse quoll aus ihrem rot geschwollenen After und zerfloss am Boden angelangt zu einem flunderförmigen Fladen. Die vermeintlich „dummen“ Rindviecher hatten ihren eigenen Kopf.
Was er über die dickbäuchigen, sanftäugigen Herdentiere wusste, wusste er von Sebald. Bei der dritten, vierten Halbe geriet Sebald regelmäßig ins Sinnieren, pflegte mit Reibeisenstimme trivialphilosophische Stammtischsentenzen zu formulieren:
„Die Viecher sind nicht so blöd wie Sie ausschauen. Die spüren genau wenn’s Wetter umschlägt! Da ist noch kein Wölkchen am Himmel zu sehen, da werden Sie im Stall schon unruhig und wollen raus. Und warum? Weil die Biester den Regen riechen!“
Die von ihm in den letzten Jahren, quasi „en passant“ gemachten Beobachtungen schienen Sebalds Hypothesen empirisch zu untermauern: die Viecher waren bei Wind und Wetter draußen auf der Wiese, um sich die Bäuche voll zu schlagen. Die pralle Mittagssonne scheuten die Paarhufer wie der Teufel das Vaterunser. Gegen Mittag suchte die Herde im Schatten der Scheune Schutz vor der Hitze. Bei Regen hingegen waren die Fleckviecher in ihrem Element. Die Mastkälber sprangen übermütig herum, die Milchkuhmatronen schritten gemessen und würdevoll einher.
Plötzlich drang ein tiefes, unheilvoll anschwellendes Brummen an Simons Ohr. Voll banger Erwartung spähte Simon zum Feldweg hinüber – da tauchte auch schon inmitten einer Rauchwolke ein gewaltiger Bulldog-Bolide mit futuristisch geformten, giftgrünen Chassis auf. Der Fahrer, bei dem es sich nur um Korbinian Irrsigel, den Oböd-Bauern, handeln konnte, gab Gas. Die schweren Achtzylinder-Motoren heulten auf, die riesenhaften Pneus prägten ihre Stollensignatur in den aufgeweichten Boden. Das Gefährt wirbelte eine Dreckfontäne auf und zog eine Schlammspur der Verwüstung hinter sich her. Endlich kam das Monstrum mit infernalischem Quietschen vor einer mit Altreifen dekorierten Betonwanne zum stehen. Unter die leiser werdenden Motorengeräusche mengten sich dumpf wummernde Bässe, kreischende Gitarren, das wilde Kriegsgeheul eines Satansschamanen:
„I’m on a Highway to Hell! Highway to Hell!“
Eine gedrungene, in einen leuchtend roten Fledermausumhang gehüllte Gestalt sprang mit einem eleganten, katzengleichen Satz aus der Fahrerkabine. Das erwartungsfrohe Gemuhe ignorierend, machte sich der raubeinige Geselle an den Klappen und Auslassrohren des mit einem Güllegemisch befüllten Hängers zu schaffen. Zu allen Tages- und Jahreszeiten verspritzte der Oböd-Bauer das bestialisch stinkende Zeug, von dem ein infernalischer Gestank nach Fäulnis und Verwesung ausging. Ein Odeur gegen den weder Weihrauch noch Myrrhe, kein noch so wohlriechendes Kraut ankam. In hilfloser Wut ballte Simon die Faust:
„In der Lohgrube sollst ersaufen!“
Mit dem Röhren eines brunftigen Achtzehnenders erwachte der Traktor zum Leben. Irrsigel trat aufs Gas, beschleunigte und begann aus allen Rohren zu feuern. Das zaghaft sprießende Grün verschwand unter einer breiig, braunen Masse. Über den dröhnenden Motor erhoben sich kreischende Gitarren und das wilde Gejohle
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