Cruzifixus
es so etwas wie Engel gab. Hatte die himmlische Bagage doch keinen Finger respektive Flügel gerührt, um seinem Opa vor der Heimtücke des Bösen zu beschützen.
Es war am Dreikönigstag, am Fest Epiphanias gewesen. Ein klirrkalter Tag an dem das Thermometer gegen Abend auf minus 10 Grad gefallen war. Unter Murren und Meckern hatte er sich die große Tragekraxe auf dem Buckel geladen und sich auf den Weg hinauf zur Almhütte seines Großvaters gemacht. Am Vortag hatte es kräftig geschneit und die Wege und Steige waren verweht. Die schartig gezackten Gipfelgrate des Hohen Hundstods waren mit Schnee verbrämt. Nicht unbedingt ein Tag, der zu einem Waldspaziergang einlud. Doch versprochen war versprochen. Oben angelangt hatte ihn der Opa freudig begrüßt. Während Simon seine frostklammen Finger am Kachelofen wärmte, hatte sein Opa die mitgebrachten Vorräte in der Speisekammer verstaut. Später am Abend hatte sich der Lois eine Tabakspfeife gestopft und seinem Enkel von der „finsteren Zeit“, vom „großen Krieg“ erzählt. Plötzlich drang von draußen Stimmengewirr an ihre Ohren und gleich darauf pumperte es dumpf und ungehalten an der Tür:
„Sternsteiner, mach auf! Wir wissen, dass du da drin bist!“
Sein Opa war bleich im Gesicht geworden und hatte ihm zugeraunt:
„Versteck dich im Heuschober oben! Schnell, beeil dich!“
Er hatte ihm stumm vor Schrecken zugenickt und war auf leisen Sohlen davon geschlichen. Seine Neugier war indes stärker gewesen als seine Furcht. Mit klopfenden Herzen war er zur Hintertür hinaus und hatte sich hinter dem Bretterverschlag der als Plumpsklo diente versteckt. Was er von dort aus sah, hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis eingeschrieben: ein Trupp maskierter Männer hatte die Almhütte im weiten Bogen umstellt. In ihren Händen hielten sie brennende Pechfackeln. Sichtlich darum bemüht Angst und Schrecken zu verbreiten, brüllte der Haberer-Chor:
„Jetzt haben wir dich, jetzt gehörst der Katz, du elendiger Judas, du dreckige Matz!!“
Ohne das geringste Anzeichen äußerer Furcht war sein Großvater dem Mob entgegengetreten:
„Was habt ihr um diese Zeit auf meinem Grund zu suchen, ihr lichtscheues Gesindel? Macht’s das ihr weiter kommt!“
Wutentbrannt schrie einer aus ihrer Mitte:
„Was willst du Laus? Mach dein Testament, du Dreckhund!“
Mit einer herrischen Geste gebot der Kopf der Habererbande dem Gerede Einhalt:
„Ruhe! Hier geht alles nach altem Brauch und Herkommen zu! Angeklagter, vernehmt also den Spruch des Femegerichts!“
Im Ton des obersten Richters verkündete der Haberermeister:
„Im Namen ihro allerchristlichsten Majestät Karl vom Untersberg verklagen wir dich Alois Sternsteiner, dass du ein schlechter, arglistiger und verruchter Mensch, ein Verleumder und Verräter bist. Um der Gerechtigkeit des Himmels Willen, bekennst du dich schuldig?“
Noch ehe sein Opa etwas auf die Anschuldigungen erwidern konnte, packten ihn zwei der Mistkerle von hinten und warfen ihn zu Boden. Mit der Brutalität des berufsmäßigen Totschlägers drosch einer der Büttel mit einem Holzprügel auf ihn ein. Endlich gebot der Anführer seinem Schergen Einhalt:
„Lasst Gnade obwalten! Wie’s der alte Brauch gebietet! Helft ihm auf die Haxen!“
Die zwei Büttel schleiften ihr Opfer vor den Haberermeister, der sich breitbeinig vor dem „Abgestraften“ aufbaute:
„Wer Gottes zehn Gebote bricht, den zu züchtigen ist Christenpflicht!“
Sein Adlatus hielt dem Geschundenen eine brennende Fackel vors Gesicht:
„Lass es dir eine Lehre sein, Sternsteiner! Das Nächste mal kommst nicht so glimpflich davon!“
Auf ein Zeichen des „Oberen“ löschten seine Mannen die Fackeln und rückten ab.
Simon unterdrückte den Impuls sofort nach dem Verletzten zu sehen. Er verhielt sich mucksmäuschenstill und horchte in die Nacht hinein. Doch da war nichts zu vernehmen als das leiser werdende Gemurmel der abrückenden Habererhorde. Geschwind lief er zu seinem Großvater und
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