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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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schreibenden Zunft nichts anderes übrig als Hypothesen aufzustellen, sich auf halb faktische, halb fiktive Annahmen und fadenscheinige Verdachtsmomente zu stützen. Eine Frage beschäftigte den Leser und insofern auch Simon mehr als alle anderen: die Frage nach dem Motiv! Damals im alten Rom hieß es: Cui Bono? Wer hatte ein Interesse daran den schießwütigen Nimrod in die ewigen Jagdgründe zu expedieren? Wer zog den größten Nutzen aus dem Ableben des hinterfotzigen Bazi-Bonzen? Wer trat das Erbe des Montan-Magnaten an? Simon glaubte indes nicht recht an einen simplen Mord aus „niedrigen Beweggründen“. Wer jemand aus Neid, Hass, Habsucht oder anderen „persönlichen“ Motiven um die Ecke brachte, versuchte alles um seine Mordtat zu vertuschen oder wie einen Unfall aussehen zu lassen. Kein „normaler Mörder“ käme auf die aberwitzige Idee sein Opfer in aller Ruhe fein säuberlich auszuweiden und die Bluttat somit auf eine Metaebene zu transponieren und zur rituellen Handlung zu stilisieren. Hier ging es um mehr als um Geld und Effekten. Der Mörder handelte aus einem zumindest vorgeblich „höheren Motiv“ heraus. Und er schien mit der Materie des Mordens vertraut zu sein, sich bestens im siebten Kreis der Hölle auszukennen.
                Simon lief mit dem Versbüchlein in der Hand vorm Fenster auf und ab. Hatte er etwas übersehen? War etwas seiner Aufmerksamkeit entgangen? Wie ließ sich ein solcher „Verbrechertypus“ charakterisieren, wie sein Phantombild zeichnen? Simon schob den schilfgrünen Veloursvorhang mit sandfarbenem Muster zurück und spähte zum Fenster hinaus: schwarzes Gewölk türmte sich zu gigantischen Kumulus-Kuben. Die Umrisse der Hügelkämme verschwammen hinter einem undurchdringlichen Grauschleier. Die Sträucher im Garten duckten sich unter der elementaren Wucht der Sturmböen. Prallbäuchige Regentropfen klopften ohne Punkt und Pause an die Scheiben. So ähnlich musste es sein, wenn in den Tropen der Monsun einsetzte. Wenn es weiterhin so sintflutartig schüttete würden die Bäche und Flüsse übers Ufer treten und alles mit sich reißen. Simon sah sich schon im Ostfriesennerz durch den Morast stapfen und über Murenabgänge, Schlamm- und Gerölllawinen, zerstörte Straßen und Brücken, verwüstete Häuser und Felder berichten. Simon öffnete die Balkontür und hielt die Nase in den Wind. Ringsum roch es nach feuchter Erde und regennassem Gras. Er legte den Kopf schief und sah sich einem wüsten Gewoge und Gewirbel gegenüber. Das Wolkenmeer über ihn war aufgewühlt und wild bewegt. Trotz Sturm und Regens spielte er mit den Gedanken eine Runde durch Feld und Flur zu drehen, um den Kopf klar zu bekommen und seine Gedanken zu ordnen. Simon beugte sich über die Balustrade. Der Sturmwind zauste sein Haar, die Regentropfen prickelten auf seiner Haut.
                Simon bezeichnete sich selbst als einen modernen Menschen, der den Wundern der Welt mit offenen Augen und dem forschenden, analytischen Geist eines empathischen Empirikers gegenübertrat. Sein Glauben war von diffuser, pantheistischer Natur. Die Natur besaß im Kleinen wie im Großen eine fest gefügte Struktur, der Mikro- wie der Makrokosmos war bestimmten physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Um die physikalischen Erscheinungsformen spann sich eine universelle, unsichtbare mathematische Matrix. Diese erlaubte es dem Menschen Entfernungen zu berechnen, Dinge in Relation zueinander zu setzen, unsichtbare Teilchen und Wirkkräfte zu postulieren, spezielle und allgemeine Theorien zu formulieren. Für ihn, war der Geist mächtiger als die Materie, das Wort schärfer als das Schwert. Die Kraft der Gedanken konnte die Welt verändern, konnte Berge versetzen und in neue Dimension vorstoßen. Die Crux am Glauben an die kognitive Erkenntnis war, dass der Empirie Grenzen gesetzt waren: sie lieferte zwar eine Fülle von Daten, die allerdings von Menschen ausgewertet und bewertet wurden. Jedes Modell der physikalischen Welt basierte auf Annahmen, auf Analogieschlüssen, bedurfte der Fiktion, um Fakten zu liefern.
                Der Mensch war stets dazu bereit, dass zu sehen woran er glaubte, nicht jedoch daran zu glauben was er sah. Anders ausgedrückt: die Wissenschaft war unfähig eine Blaupause zu erstellen, die die wahre Natur der Dinge abbildete. Per definitionem musste die Physik das „metaphysische, deterministische Drehmoment“, das Unermessliche aus ihren Betrachtungen

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