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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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geschreinerten Regalen auf die auserwählten Besucher jener Bibliothek der Geisteswelt. Auf den Lesepulten jenes Saals lagen mit Miniaturmalereien, mit Fabelwesen und Drolerien illustrierte Kommentare und Kompendien zu allen theologischen und philosophischen Fragen der Menschheitsgeschichte. Gewaltige, großformatige Kodizes ruhten auf mit Samt überzogenen Holzplatten. Die Mitte der Paradies-Bibliothek markierte eine kreisrunde, von einer gewaltigen Kuppel überwölbte Halle, in dem ein Schwarm bienenfleißiger Archivare damit beschäftigt war Kataloge und Verzeichnisse zu aktualisieren, Neuerwerbungen mit geheimnisvollen, kabbalistischen Signaturen zu versehen. Signaturen, die jedem noch so unscheinbaren Bändchen seinen festen Platz im Kosmos der Bücher zuwies. So weit der Traum.
                Simon scheute weder Kosten noch Mühen, um den Traum wahr werden zu lassen und den eignen Paradiesgarten zu hegen und zu pflegen. Seine Hausbibliothek hatte er in einem klimatisierten Kellerraum untergebracht, der gegen räuberisches Diebsgesindel und zerstörerische Umwelteinflüssen fast so gut abgesichert war, wie die Räume der Bodleian Library oder des Archivo Segreto Vaticano. Dort kamen angeblich Netzhautscanner zur Identifizierung der Retina zum Einsatz, um die Sätze eines Pythagoras, Aristoteles oder Origenes vor den zudringlichen Blicken unbefugter Eindringlinge zu beschützen.
                Er hackte einen siebenstelligen Code in die Tastatur, zog eine eigens codierte Chipkarte durch den Kartenleser. Simon betätigte den Sicherheitshebel der feuersicheren Stahltür und betrat das Sanktuarium der in Wort und Schrift konservierten Geister. Die Leidenschaft fürs „Literarische“ hatte Simon von seinem Großvater geerbt. In den nach Maß gefertigten, mit Nussbaum furnierten Regalen stapelte sich der Nachlass von Psychopathen und Philosophen, von Geistesgrößen und Gernegroßen, türmten sich die Werke von Exzentrikern und Existenzialisten, von Abenteurern und Alchemisten.
                In den Jahren nach dem Krieg hatte sein Opa die Gunst der Stunde genutzt: hatte eine alte, zerfledderte Handschrift, einen handkolorierten Wiegendruck, ein mit Kupferstichen illustrierten, in edles Velin oder Chagrin gebundenen Kodex für ein paar Pfund Mehl, ein paar Liter Milch oder ein Ster Brennholz eingetauscht. Damals hatte sich der Wert eines Buchs nach seinem Brennwert und nicht nach seinem ideellen Wert bemessen. Simon musterte mit unverhohlenem Besitzerstolz die dicht geschlossenen Buchreihen. Daumennageldünne Traktate rieben sich an fetten Schwarten, Quart-, Sedez- und Folioformate lehnten sich liebevoll aneinander. Seine Privatsammlung war auf über 800 Bände angewachsen, die er weder nach bestimmten Themenschwerpunkten noch nach chronologischen Gesichtspunkten, sondern allein nach dem Alphabet von A wie Abraham Abulafia bis Z wie Zwingli sortiert hatte. Wann immer er hierher kam, erfüllte ihn ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Sein Großvater hatte ihm Einblick in die Wunderwelt der Wörter gewährt, hatte ihm das Zauberreich der Ziffern, Chiffren und Zeichen erschlossen. Ein Buch war wie Magie: es erweckte leblose Materie zum Leben, entriss die Geister der Toten dem Dunkel des Vergessens, hob die Grenzen von Zeit und Raum auf. Ein Buch, das war das Tor zur Traumwelt, die einen in lichten Höhen schweben, die Geheimnisse des Lebens ergründen, in den Spiegel der Seele blicken ließ. Mit der Geste eines um das Wohlergehen seiner Sprösslinge besorgten Vaters strich er über die buckligen Buchrücken. Von Ferne vermeinte er ein geisterhaftes Wispern zu hören. War es Orpheus, der in die Seiten seiner Lyra griff, um die wilden Furien und Bestien des Hades versöhnlich zu stimmen?
     
    Was wollte er mit dem BGB? Was sollte er seine Zeit mit einem juristischen Fallkommentar verplempern? Simon war auf der Suche nach höherer, erlesener Kost: einem ketzerischen Manifest, einem Handbuch der Hexerei, einem Diarium des Diabolus. In den verbotenen, schwarzmagischen Büchern würden sich doch Rezepturen finden lassen, wie er den Oböd-Bauer gefügig oder den Mörder Paintingers ausfindig machen konnte? Simon zog ein schmales Bändchen in weinrotem Leinen mit Goldprägung hervor. Die Runenschrift war verblasst und kaum mehr als solche zu erkennen: „Die Brüder der Sonne“ – ein von arischer Heldenverklärung triefender Schundroman mit pseudophilosophischen Anspruch aus der Feder eines

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