Cruzifixus
Himmel!“
Mit qualvoll, gepeinigtem Quietschen kam der Wagen zum Stehen. Im Tonfall eines Karawanenführers, der nach 40 Tagen Wüste die rettende Oase erblickt, krächzte Vinzenz:
„Schau, da vorn! Wir sind da!“
Kreuzlahm kroch Simon aus der Blechkiste. Er war wie gerädert, fühlte sich wie ein an den Ufern des Styx gestrandeter Schiffbrüchiger. Vinzenz deutete auf einen konischen, wie von Töpferhand modellierten Grasbuckel:
„Siehst du den Hügel in drei Uhr? Dort kreuzen sich zwei tellurische Kraftadern. Unterhalb der Kuppe befindet sich die Grabkammer eines keltischen Stammesfürsten.“
Er hampelte herum, als ob dort oben der Stein des Weisen verborgen läge:
„Die Kelten glaubten an die Wiedergeburt. Ihrer Vorstellung nach wanderte die Seele durch ein Schattenreich, ehe Sie ins Leben zurückkehrte. Der Tod markierte also keinen Endpunkt, sondern einen Wendepunkt, den Beginn einer Metamorphose. Das eigene Leben galt ihnen wenig. Wie die Spartaner oder die Tempelritter gingen die Keltenkrieger furchtlos und mit den festen, unerschütterlichen Glauben an ihre eigene Unsterblichkeit in die Schlacht. Ihre Todesverachtung, ihr Furor waren weithin gefürchtet.“
Die stereotype Schwarzweißmalerei der „Barbaren“ reizte seinen Widerspruchsgeist:
„Sympathische Burschen! Die imponieren mir!“
Vinzenz ignorierte seinen ironischen Einwurf:
„Ihre Götter waren genauso grausam und grimmig wie Sie selbst. Über die Unterwelt herrschte Cernunnos, inmitten einer höllischen Menagerie blutrünstiger Bestien, mordgieriger Mantikoren, hundsköpfiger Kynokephalen und anderen Chimären und Fabelwesen. Cernunnos wurde mit einem gewaltigen Geweih dargestellt und hieß auch der Gehörnte. Im Zuge der Christianisierung wurde aus ihm der Bocksfüßige, der Teufel. Die Kelten brachten ihm Blutopfer dar, um sich des Beistands der Unterwelt zu versichern. Um die erdenergetischen Ströme anzuzapfen, errichteten Sie an den Cernunnos geweihten Opferplätzen gewaltige, phallusförmige Steinstelen, die Menhire.“
Simon wagte anzumerken:
„Schön, dieser Teufelskerl ist also so eine Art Unterweltboss. Welche Kräfte sollte er seinen Adepten denn verleihen?“
Vinzenz schien den Schock gänzlich überwunden zu haben und langsam zu alter Form aufzulaufen:
„Magische, überirdische Kräfte – was sonst? Das uralte Wissen der Druiden, der Schamanen und Magier wurde von geheimen Bruderschaften bewahrt, die die heidnischen Götter verehrten und Christus am Kreuz als Narr von Nazareth verspotteten.“
Simons Nicken war das eines Eleven, der den Ausführungen seines Meisters nicht recht folgen kann:
„Wieso wohl hat Hitler seine geheime Kommandozentrale gerade am Obersalzberg, am Fuße des Untersbergs eingerichtet?“
Simon stöhnte innerlich. Er wurde das ungute Gefühl nicht los, dass er sich in einem Teufelskreis bewegte:
„Was weiß ich? Wegen der guten Bergluft, den glücklichen Kühen, den feschen Buam.“
In die gestrengen, wie in Marmor gemeißelten Züge des „Meisters“ kerbte sich das allwissende Lächeln des Initiierten:
„Falsch! Aufgrund der tellurischen Kraftströme. Die wirken wie ein Dynamo, der ein magnetisches Feld induziert, was wiederum zu einem Tarneffekt führt.“
Simon blickte skeptisch aus der Wäsche. Vinzenz lächelte wie die Reinkarnation des Doktor Mabuse:
„Du glaubst mir nicht? Komm, lassen wir die Kelten. Ich zeig dir etwas, was dich überzeugen wird!“
Ihr Weg führte kreuz und quer, hin und her, so als ob es darum ginge einen hartnäckigen Verfolger abzuschütteln: Mupferting, Urwies, Buchreith, Bernloh. Hinter den letzten Höfen von Ratzing bogen Sie in einen Feldweg, der durch ein finstres Fichtengehölz führte und urplötzlich vor einem moorigen Bachlauf endete. Mit einem letzten, nach Luft ringenden Röcheln erstarb der Motor:
„Da sind wir! Auf geht’s!“
Vinzenz war wie ausgewechselt. Voller Elan sprang er aus der alten Chaise und
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