Cruzifixus
der Schöpfung. Die Zeit ist keine Konstante, sondern eine Variable des ewigen Kontinuums. Wo heute Kreuze stehen, standen früher Stelen, was heute der Binärcode waren dereinst die Runen. Die Missionare waren mit den keltischen Gottheiten vertraut - geändert hat sich nur ihr Name. Aus der großen Erdmutter Birgit wurde Sankta Birgitta, aus dem Himmelsgott Taranis die Stella Matutina!“
Der Eifer des in der fünften oder sechsten Dimension schwebenden Strahlemanns wurde Simon langsam unheimlich:
„Die Altvorderen wussten um die verborgenen Kräfte der Natur. Wir befinden uns hier am Nabel der Unterwelt, an einem Grabenbruch, der sich unter unseren Füßen durch die Erdkruste zieht und den leuchtenden Pfad des Pfeils markiert. In England nennt man jene unterirdischen Adern Leys, in China Drachenlinien. Die Kunst des Feng Shui besteht darin, ihre energetischen Frequenzfelder zu lokalisieren. Im Prinzip geht es darum, auszuloten ob der Energiefluss stockt oder ob das Qi frei fließen kann. Qi ist die Lebensenergie, die jedes Wesen, jede Zelle durchtränkt! Diese gilt es zu harmonisieren und zu akkumulieren.“
Simon blickte betreten zu Boden, er spürte nichts: kein Odem des Qi, keinen Pulsschlag der Erde. Vinzenz dozierte unbeirrt weiter:
„In manchen Spruchweisheiten schwingt noch heute das überkommene Wissen: Wenn jemand auf ganzer Linie siegt, dann bedeutet dies nichts andres als das jener Kämpe die Kraft des Drachens gebändigt und bezwungen hat.“
Simon meldete Zweifel an den Auslassungen des Meisters an:
„Ich weiß nicht Vinzenz. Die Kraft der Erde, die Energie des Qi? Für mich klingt das nach hermetischen Humbug.“
Zornesröte entflammte das Gesicht des Großmeisters in den esoterischen Disziplinen der Astrologie, Alchemie, Spagirik, Arithmologie, Metastatik und Auratik. Sein ausgestreckter Arm wies wie eine Kompassnadel den Weg gen Norden:
„Vergiss dein logisch, dialektisches Denken. Zwischen Himmel und Erde gibt es Dinge, die das menschliche Vorstellungsvermögen sprengen. Nimm nur die morphogenetischen Felder!“
Simon ächzte wie unter einem zentnerschweren Zementsack:
„Was soll ich nehmen?“
„Die Theorie von Sheldrake besagt, dass morphische Felder auf Interferenzen reagieren, positive oder negative Schwingungen absorbieren. Danach verfügt jede Art von Lebewesen, aber auch anorganische Materie über ein kollektives Gedächtnis. Orte erinnern sich also präzise an die Dinge, die dort geschehen sind und reflektieren diese Erinnerungen in einer negativ respektive positiv aufgeladenen Energiematrix. Komm!“
Der Lehrmeister schob seinen begriffsstutzigen Jünger in Richtung einer von mächtigen Buchenstämmen umstandenen Vertiefung. Die Mitte der Mulde markierte ein windschiefes, halb vermodertes Feldkreuz. Der Holzheiland sah zum Erbarmen aus und hing nur noch mit einem Arm am Kreuzstamm. Mit aufgeregt herumfuchtelnden Händen beschrieb Vinzenz einen weiten, den Erdkreis umspannenden Bogen:
„Die Drachenkraft verläuft horizontal. Sie verkörpert das weibliche Element, das Erdgebundene, das Wachsen und Gedeihen. Das Kreuz und die Bäume ringsum symbolisieren das männliche Prinzip, das Himmelsstrebende, das Befruchten und Begatten. Pfahl, Stele und Obelisk symbolisieren seit Urzeiten das erigierte Glied des Mannes. Das Pfählen der Erdenergie lässt Yin und Yang fließen – und der ewige Kreis des Werdens und Vergehens schließt sich. Das Kreuz steht also in Wahrheit für die Vereinigung von Mann und Weib im magischen Kreis!“
Das Haupt zum Himmel gereckt, stand Vinzenz da wie ein zu neuem Leben erwachter Druide. Simon wusste nicht was er von diesen halbgaren „Weisheiten“, diesen abstrusen Amalgam aus Halbwahrheiten halten sollte. Pfahl und Penis, Kreuz und Kopulation, Muh und Kuh? Wahnsinn und Genie gingen bekanntlich Hand in Hand.
Das schmiedeeiserne Tor öffnete sich mit jämmerlichem Kreischen. Auf dem alten, verwaist daliegenden Gottesacker war keine Menschenseele zu sehen. Vinzenz bestimmte mit rauer, rauchiger Stimme wo es lang ging:
„Da rüber. Das Grab liegt auf der Sonnseite!“
Der
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