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Cruzifixus

Cruzifixus

Titel: Cruzifixus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Dinesh Bauer
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traf die letzten Vorbereitungen für den Aufstieg. Simon lehnte sich zum Seitenfenster hinaus. Sein Blick wanderte den jenseits des Bachs aufragenden Hügelkamm hinauf. Dabei sah er sich im Geiste bereits zu einer Trekkingtour zu den keltischen Kultstätten entlang des Alpenkamms aufbrechen:
                „Müssen wir da wirklich rauf. Hat das nicht Zeit bis Morgen?“
                Sein „Sherpa“ überhörte den Einwand geflissentlich:
                „Sei kein Frosch! Der Berg ruft!“
                Vinzenz war nicht zu bremsen, watete mit geschultertem Rucksack durch die Furt und kletterte wie eine Gams die Uferböschung hinauf. Schweren Herzens folgte er ihm, hangelte sich wie ein rheumatisches Faultier den glitschigen Abhang entlang. Oben an der Hangkante angelangt, sah er gerade noch wie sich Vinzenz durch eine Dornenhecke zwängte und im Unterholz verschwand. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, dass er sich wie ein Strauchdieb in die Büsche schlagen durfte. Gott, die Welt und Vinzenz verfluchend kämpfte er sich durchs Dornendickicht. Auf Ästen und Zweigen zirpten und zwitscherte die Waldvögelein, um ihre Artgenossen vor den Zweifüßern zu warnen. Endlich lichtete sich das Buschwerk. Vor ihm zog sich ein schmaler, mit schütterem Riedgras bewachsener Grat bis zu einer einsamen, von einer Kapelle gekrönten Anhöhe. Knauf und Kreuz des bleistiftspitzen Türmchens blinkten und blitzten in der Abendsonne. Etwas unterhalb des Kirchleins krauchte eine aus dieser Entfernung zwergenhaft wirkende Gestalt bergan – Vinzenz war ihm weit voraus!
     
    Da war er. Schnaufend sah sich Simon um. Das Licht fing sich in den rotbunten Glasgemälden der Gipfelkapelle. Der Bau selbst befand sich in einem desolaten Zustand. Die Mauern ähnelten einem Flickenteppich, der Putz blätterte von den grünschimmligen Wänden. Vinzenz lehnte an einem morschen Holzgatter:
                „Na auch schon heroben? Kaum vergehen zehn Minuten…“
                Wie ein in den Sitzstreik getretener Goldhamster blies er die Backen auf:
                „Wieso pressiert es dir denn so? Gibt’s hier etwas umsonst?“
                Mit einem abschätzigen, mitleidigen Lächeln wandte Vinzenz seinen Kopf und blickte nach Süden:
                „Schau dir das an! Ein solches Farbschauspiel bietet dir kein Technicolor, sondern nur Mutter Natur! Und die verabscheut bekanntlich die Öde, die Leere - horror vacuum!“
                Er breitete die Arme, als ob er die Bergwelt umarmen wollte:
                „Als Gott das Bayernland erschuf, das muss ein Glückstag gewesen sein!“
                Simon neigte nicht zur Heimattümelei. Ein Blick ins weite Rund des alpinen Amphitheaters ließ ihn indes in den Lobpreis der heimatlichen Gefilde einstimmen:
                „Schon schön bei uns da! Es kommt einem vor, als ob der Himmel ganz in der Nähe wäre.“
                Über die welligen Waldbuckel schoben sich die firnig, funkelnden Schultern des Sturzhorns, türmte sich die Gipfelpyramide der Sonnwendspitze. Vinzenz war drauf und dran im Angesicht des „Göttlichen“ auf die Knie zu fallen:
                „Spürst du die Energie? Hier befand sich früher eine Thingstätte, ein sakraler Versammlungsort. Horch hin – spürst du wie der Boden vibriert, wie dich der magnetische Strom durchfließt, wie dich die urweltliche Kraft mit fieberhafter Regung erfüllt!“
                Simon mimte den nach Erleuchtung lechzenden Eleven. Er schloss die Augen, konzentrierte sich: die inneren Seismographen registrierten nichts – bis auf das Knurren seines Magens. Simon mühte sich redlich den vom Arzt verordneten Diätplan zu befolgen, auf fette Schweinshaxen zu verzichten und sich mit schrumpeligen Sojasemmeln und mickrigen Müsliriegeln zu begnügen. Doch nicht jeder hatte das Zeug zum Asketen. Vinzenz sah ihn aus großen, erwartungsvollen Augen an. Simon suchte krampfhaft nach passenden Worten, um nicht aus der Rolle zu fallen:
                „Da ist was! Es ist so, als ob…“
                Aus Vinzenz sprach der zu Höherem Berufene:
                „Die Geheimnisse der Natur liegen offen vor uns. Wir müssen nur erkennen, dass sich das Höchste im Geringsten offenbart. Wenn wir den Makrokosmos im Mikrokosmos erkennen, dann erschließt sich uns der Bauplan

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