Cry Baby - Scharfe Schnitte: Thriller (German Edition)
Zungenspitze.
»Braves Mädchen«, meinte sie lächelnd. Allmählich war ich diesen Satz leid.
Wir hielten vor einem der alten viktorianischen Herrenhäuser von Wind Gap, das vollständig renoviert und in lächerlichen Blau-, Rosa- und Grüntönen gestrichen war, die wohl cool wirken sollten. Es erinnerte eher an eine durchgeknallte Eisdiele. Ein Junge mit nacktem Oberkörper kotzte gerade ins Gebüsch, zwei Teenies rangen in den Überresten eines Blumenbeets, und ein Pärchen hockte eng umschlungen auf der Schaukel. Nolan ließen wir im Auto sitzen, er fummelte noch immer am Bezug der Rücklehne herum. Damon, der Fahrer, schloss ihn ein, damit »ihn keiner blöde anmacht«. Wie rührend.
Dank des OxyContin war ich ziemlich ruhig und ertappte mich dabei, dass ich nach Gesichtern aus meiner Jugend Ausschau hielt: Jungen mit Stoppelschnitt und Baseballjacken, Mädchen mit Dauerwelle und goldenen Klunkern in den Ohren. Dem Geruch von Drakkar Noir und Giorgio.
Nichts da. Die Jungen waren Babys in Schlabberhosen und Turnschuhen, die Mädchen trugen knappe Tops und Miniröcke und hatten einen gepiercten Bauchnabel, und alle starrten mich an, als wäre ich ein Bulle.
In dem höhlenartigen Esszimmer hatte man den Tisch an die Wand geschoben, um Platz für Getränke und zum Tanzen zu schaffen. Amma hüpfte ins Gewühl und rieb sich an einem Jungen, bis sich dessen Nacken rot färbte. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er nickte, worauf sie eine Kühlbox öffnete, vier Bier herausnahm und an ihre feuchten Brüste drückte. Dann schlängelte sie sich zwischen einigen Jungen hindurch, die ihr anerkennend nachblickten.
Die Mädchen waren weniger erfreut. Ich sah, wie sich eine Kluft zwischen den Gästen auftat. Allerdings waren die kleinen Blondinen doppelt im Vorteil. Zum einen waren sie mit dem örtlichen Dealer hergekommen, der gewiss etwas springen lassen würde. Und da sie zudem hübscher als die meisten anderen waren, würden die anwesenden Jungs einen Rausschmiss zu verhindern wissen. Der Gastgeber war ebenfalls männlich, ein dunkelhaariger Junge mit nichtssagend hübschem Gesicht. Auf dem Kaminsims stand ein Foto, auf dem er in akademischer Tracht zu sehen war, flankiert von seinen stolzen Eltern. Die Mutter kannte ich, sie war die ältere Schwester einer Schulfreundin. Die Vorstellung, auf der Party ihres Kindes zu sein, machte mich dann doch ein bisschen kribbelig.
»Ogottogottogott.« Eine Brünette mit Froschaugen und T-Shirt mit fettem GAP -Schriftzug stürzte an uns vorbei und schnappte sich ein ähnlich reptilienartiges Mädchen. »Sie sind gekommen. Sie sind echt gekommen.«
»Scheiße«, antwortete ihre Freundin. »Ist ja irre. Sollen wir hallo sagen?«
»Mal abwarten, was passiert. Wenn J.C. sie nicht hier haben will, halten wir uns besser raus.«
»Klaro.«
Ich wusste Bescheid, bevor ich sie sah. Meredith Wheeler betrat das Wohnzimmer, John Keene im Schlepptau. Ein paar Jungs nickten ihm zu, einige wenige klopften ihm auf die Schulter. Manche drehten sich demonstrativ weg und rückten enger zusammen. Zum Glück bemerkten John und Meredith mich nicht. Sie erspähte an der Küchentür eine Gruppe magerer O-beiniger Mädchen, vermutlich ebenfalls Cheerleader, und lief quiekend zu ihnen hinüber. John blieb allein im Wohnzimmer zurück. Die Mädchen verhielten sich noch eisiger als die Jungen. »Hi«, sagte eine zu Meredith, ohne zu lächeln, »du hattest doch gesagt, ihr kämt nicht.«
»Fand ich dann doch blöd. Wer was im Hirn hat, weiß, dass John in Ordnung ist. Wir wollen doch keine beschissenen Außenseiter werden, nur wegen … wegen diesem Mist.«
»Es ist nicht in Ordnung, Meredith, J.C. wird das nicht gefallen«, sagte ein Rotschopf, J.C.s Freundin oder Möchtegernfreundin.
»Ich rede mit ihm«, wimmerte Meredith, »lasst mich einfach mit ihm reden.«
»Ich glaube, ihr solltet besser gehen.«
»Haben sie wirklich Johns Kleider mitgenommen?«, erkundigte sich ein winziges Mädchen, das irgendwie mütterlich wirkte. Typ Helferin beim Kotzen.
»Ja, aber nur, um ihn als Verdächtigen völlig auszuschließen. Nicht weil er Probleme hat.«
»Egal«, meinte der Rotschopf. Ich hasste sie.
Meredith sah sich nach freundlicheren Gesichtern um und entdeckte mich, schaute verwirrt, entdeckte Kelsey, wurde wütend.
Sie ließ John an der Tür stehen, der sich unbekümmert gab, während um ihn herum das Tuscheln erst richtig losging, und marschierte zu uns herüber.
»Was macht ihr denn hier?«
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