Cry - Meine Rache Ist Dein Tod
auf den Grund zu gehen, trat sie wieder an den Tisch, hob einen Schnipsel nach dem anderen auf, überflog die Texte und versuchte, eine gewisse Ordnung hineinzubringen. Die Artikel waren nicht datiert; am besten ließen sie sich nach der Art des Drucks ordnen – Zeitung oder Zeitschrift. Anschließend konnte sie im Internet nach den Quellen suchen. Das wollte sie tun, sobald sie ihr Modem wieder angeschlossen hatte.
Aber nicht mehr heute Abend. Nach der langen Fahrt meldeten sich ihre Kopfschmerzen wieder. Sie musste die Sache erst einmal überschlafen, vielleicht würde sie dann klarer sehen. Eve massierte sich die Schläfen, dann nahm sie zwei weitere Aspirin-Tabletten aus ihrer Handtasche, spülte sie mit Leitungswasser hinunter, beugte sich anschließend über das Spülbecken und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
In einer Schublade fand sie ein Frotteehandtuch, mit dem sie sich abtrocknete. Sie blieb einen Moment lang stehen, ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, und die Erlebnisse des heutigen Tages schienen in den Hintergrund zu rücken. Wie viele Stunden hatte sie hier mit ihrer Großmutter zugebracht … Die rosa Fliesen, die Blümchentapeten in Grün-, Grau- und Pinktönen, die ehemals weißen Schränke, der zerkratzte Holzfußboden – die Küche hatte sich kaum verändert, seit Eve ein Kleinkind gewesen war, das vor der Spüle auf einen Stuhl kletterte, um mit einem Stück Teig zu spielen, während die Großmutter ihre köstlichen Nusskuchen und Pfirsichtorten zubereitete.
Mit einem schwachen Lächeln erinnerte sich Eve an die mehlbestäubten Hände der alten Frau und an ihre winzige Schürze. Eves Brüder – »die Rüpel«, wie Nana sie zu nennen pflegte – hatten inzwischen draußen gespielt, selbst bei Wind und Wetter. Schon damals war die Ungleichbehandlung deutlich geworden: Kyle und Van mussten ihre Schuhe im Vorraum ausziehen und durften im Haus nicht »toben«, Eve hingegen genoss beinahe Narrenfreiheit. Sie war schon immer Nanas Liebling gewesen. Die zwei Söhne, die Terrence Renners Frau mit in die Ehe brachte – gezeugt von einem Mann, der mehr Zeit im Gefängnis als in Freiheit zugebracht hatte –, waren zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits arrogante, vorpubertäre Bengel. »Unruhestifter und Raufbolde«, hatte Nana geschnaubt. Eve hingegen, das Adoptivkind, war als unschuldiger Säugling in die Familie gekommen.
Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, weshalb Kyle und Van so wenig mit ihrer neuen Großmutter anzufangen wussten. Kyle war zu einem grüblerischen, unglücklichen Mann herangewachsen, während Van als Erwachsener nur noch an sich selbst dachte, narzisstisch bis zum Äußersten.
Heute wusste Eve, dass die Großmutter, die sie so verehrt hatte, in Wahrheit eine bigotte alte Frau gewesen war, der es Spaß machte, Menschen gegeneinander auszuspielen. Und mit Dorothy Gilles Renners Tod hatte sich die Lage zugespitzt, denn in ihrem Testament hatte die alte Dame Eve zu ihrer Haupterbin bestimmt. Kyle und Van hatte sie mit eher symbolischen Vermächtnissen bedacht, und Eves Vater, Dorothys einziges Kind, wurde mit einer verlassenen Farm mitten im Sumpf und den Erinnerungsstücken seines Vaters aus dem Zweiten Weltkrieg abgespeist.
Eine schwere Zurücksetzung für die Männer in der Familie.
Nach der Testamentseröffnung hatte Eve mit ihrem Gewissen gerungen und schließlich die Entscheidung getroffen, ihre Brüder zu entschädigen, falls sie das alte Haus irgendwann verkaufen sollte.
Doch jetzt war sie zu erschöpft, um sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen. Sie ging durch das Haus, schaltete im Vorbeigehen hier und da Tischlampen an, dann nahm sie ihr größtes Gepäckstück und schleppte es über die knarrende Treppe mit dem fadenscheinigen Läufer ins Obergeschoss. Manchmal fragte sich Eve, ob das Erbe ihrer Großmutter wirklich ein Segen oder nicht vielmehr ein Fluch war. Das alte Haus zu renovieren, ohne seinen historischen Charme zu beeinträchtigen, würde ein Vermögen kosten. Vorerst musste sie also mit den ausgefransten Läufern, den gesprungenen rosa Kacheln und den verblichenen Tapeten vorliebnehmen.
Im ersten Stock hielt sie inne, um Atem zu schöpfen. Es widerstrebte ihr, sich eingestehen zu müssen, wie geschwächt sie noch war von dem Anschlag.
Cole.
Ihr Geliebter.
Ihr Vertrauter.
Ihr Angreifer.
Eves Magen verkrampfte sich schmerzhaft, als sie wieder vor sich sah, wie er sie durch die Scheibe anstarrte, das
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