Cryer's Cross
vierundzwanzig Stunden wird es die unglückliche amerikanische Horrorsensation der Woche. Nicos Gesicht ist überall im Fernsehen zu sehen, und Tiffany Quinns Geschichte wird wieder ausgegraben und ebenfalls gesendet. Es dauert nicht lange, bis die Reporter versuchen, eine Verbindung zwischen den beiden Fällen herzustellen, genauso wie Sergeant Dunne gestern bei Kendall. Hat Nico »Tiffany verschwinden lassen« und ist jetzt selbst untergetaucht? Wo könnten sie sein? Hat Nico Cruz eine dunkle Seite?
Oh, natürlich, das sind alles nur Spekulationen, das geben die Reporter zu.
Aber man sieht ihnen an, dass sie es glauben.
Mr Fletcher schaltet den Fernseher aus. Kendall starrt den schwarzen Bildschirm an. Ihre Haare sind zerzaust, die Augen rot.
»Kendall«, sagt er und legt ihr die Hand auf den Arm.
Sie rührt sich nicht.
»Liebes.«
Sie schüttelt nur den Kopf und flüstert mit vom Weinen heiserer Stimme: »Ich kann nicht fassen, dass das alles gerade passiert.«
Ihr Vater steht auf und zieht sie hoch. Er nimmt sie in den Arm und flüstert: »Komm, Kleines.«
Kendall nickt und legt die Wange an seine Schulter. Als sie sich von ihm löst, sieht sie seine glänzenden Augen.
Er schaut weg. »Lass uns ihn suchen.«
***
Sie haben Hubschrauber. Nachrichtenteams kommen und schlagen ihr Lager vor der Futter- und Samenhandlung und in der Markthalle auf. Es ist mehr Polizei unterwegs, als Kendall je zuvor gesehen hat. Viele Leute fahren oder laufen in die Stadt, aber manche kommen auch mit Quads, um schneller abseits der Straßen suchen zu können. Marlena und Jacián sind auch dabei. Kendalls Augen werden schmal.
Sheriff Greenwood steht mit einem Megafon auf der Treppe zum Restaurant, hält es hoch und testet es, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Kendall sieht sich um. Es ist gerade erst Tagesanbruch an einem Sonntagmorgen, und alle sind da, so wie beim letzten Mal. Außer Nico.
Die anwesenden Schüler beobachten Kendall verstohlen und mitfühlend, unsicher, ob sie auf sie zugehen sollen. Die meisten tun es nicht. Kendall geht mit ihrem Vater und ihrer Mutter zu Nicos Eltern. Schweigend stehen sie zusammen, während sich die Mütter umarmen. Es gibt nicht viel zu sagen. Der Schlafmangel ist allen anzusehen, und das sagt alles. Kendall sieht Tiffany Quinns Mutter in der Menge stehen. Sie sieht alt aus, als wäre sie seit Mai zehn Jahre älter geworden. Kendall wirft einen Blick auf Nicos Eltern und fragt sich, was mit ihnen geschehen wird.
Sheriff Greenwood spricht durch sein Megafon, und die Menge wird ruhig.
Alles fühlt sich schrecklich bekannt an, doch für Kendall ist es heute tausendmal schlimmer.
»Vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, erklingt Sheriff Greenwoods Stimme. Er räuspert sich, während die Menge still wird, dann hebt er das Megafon wieder an die Lippen. »Es scheint unglaublich, dass wir das noch einmal tun müssen. Und doch sind wir hier.«
Er hält einen Moment lang inne, sieht auf ein weißes Blatt Papier, das im Wind in seiner Hand flattert. »Um euch auf den neuesten Stand zu bringen: Wir haben Nico Cruz gestern Abend gegen sieben Uhr als vermisst erklärt. Seitdem haben wir mit ein paar Leuten gesprochen, und ausgebildete Beamte haben während der Nacht bereits gesucht. Bislang haben wir keine Spur von ihm gefunden.
Nachdem ich mich mit den anderen Polizeikräften, die zur Unterstützung gekommen sind, beraten habe, habe ich entschieden, dass wir unsere Suche in etwa so wie das letzte Mal durchführen werden. Diesmal jedoch müssen die Gruppen mindestens aus drei Leuten bestehen, und bis auf Weiteres darf niemand unter achtzehn allein irgendwohin gehen. Weder zu Fuß noch mit dem Auto, noch zu Pferd. Und das gilt nicht nur für die Suche – das ist eine neue Ausgangssperre für Cryer’s Cross.«
In der Menge wird Gemurmel laut, nicht nur aus Überraschung, sondern auch aus Angst.
»Lasst mich das näher erläutern: Kein Kind oder Teenager von siebzehn oder weniger Jahren darf bis auf Weiteres allein im Bezirk von Cryer’s Cross herumlaufen. Kinder unter dreizehn müssen von jemandem über achtzehn begleitet werden. Teenager, die vierzehn oder älter sind, können in Partnerteams unterwegs sein. Die Schulpartner werden euch der Einfachheit halber nach eurem Wohnort zugewiesen.« Er macht eine kurze Pause. »Wer sich nicht daran hält, wird verhaftet.«
Verhaftet? Kendall starrt den Sheriff an. Schulpartner? Der einzige Teenager in ihrer Gegend war Nico.
Wieder wird
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