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Cryer's Cross

Cryer's Cross

Titel: Cryer's Cross Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baumhaus
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entlanggeradelt und habe an der Straße angehalten und in beide Richtungen geschaut, mindestens fünfzig Mal – obwohl dort bis heute kaum Verkehr herrscht –, bis ich den Mut hatte, über die Straße zu rasen und zu Nico zu fahren. Unterwegs habe ich manchmal angehalten, um eine Heuschrecke zu fangen oder so. Wenn ich dann endlich an seinem Haus angekommen war, dann brauchte ich mein Lunchpaket, weil ich das Gefühl hatte, es sei richtig anstrengend gewesen, aber Nico ließ mich immer warten. Er ist herausgekommen, und wir sind die Traktorwege auf ihrem Anwesen entlanggefahren, ganz um das Land herum. Ihr Land grenzt an das von einem Nachbarn, der nicht mehr hier lebt … ein alter Mann, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Mr Prins. Erinnern Sie sich noch an ihn, Hector?«
    »Oh ja. Er war ein verrückter, tauber alter Mann. Am Ende hatte er für niemanden mehr ein gutes Wort übrig. Ich kannte ihn, seit ich ein Teenager war«, erzählt Hector. »Er war nicht immer so verbittert, aber manchmal geschehen Dinge, die einen Menschen verändern.« Sein Blick trübt sich.
    »Nun ja, ich hatte eine Heidenangst vor ihm«, fährt Kendall fort. »Aber Nico war total von ihm fasziniert. Er musste immer wieder dorthin. Er hat ihn immer geärgert und mich dabei mitgeschleift. Wenn Mr Prins in seinem Garten arbeitete, stellten wir uns genau hinter die Grundstücksgrenze, als ob sie uns irgendwie schützen könnte, und schrien ihm etwas zu, damit er uns ansah, bereit, jederzeit wegzurennen, wenn er es tat. Aber er sah nie auf.«
    »Ich dachte, er sei taub gewesen«, meint Marlena.
    »Das war er auch«, bestätigt Kendall. »Aber Nico glaubte, er täte nur so.«
    »Und wann habt ihr gegessen?«
    Kendall lächelt. »Im hintersten Winkel ihrer Farm steht eine große Eiche, in die seine große Schwester und seine Brüder ein Baumhaus gebaut haben, das sie nicht mehr benutzten, als sie erwachsen wurden. Dort sind wir hingegangen, haben unsere Lunchpakete gegessen und den ganzen Tag gespielt. Nico hat gerne mit mir Familie gespielt oder bei den albernen kleinen Theaterstücken mitgemacht, die ich geschrieben habe. Es war, als gehörten wir für immer zusammen.«
    Marlena sieht aus, als wolle sie wieder weinen.
    »Es tut mir so leid«, sagt sie.
    Kendall holt tief Luft, stößt den Atem aus und lächelt unsicher. Sie lehnt sich auf dem Sessel vor und stützt das Kinn in die Hände.
    »Was soll ich nur ohne ihn tun? Er ist mein bester Freund. Es ist, als hätte man mir die Hälfte meiner Seele herausgeschnitten.«
    Leise steht Hector auf und lässt die beiden Mädchen allein.
    Als hätte Marlena auf einen Schalter gedrückt, sprudelt plötzlich alles aus Kendall heraus, ihre Ängste, ihre Trauer. Wie furchtbar es war, als die Leute andeuteten, Nico hätte etwas mit Tiffanys Verschwinden zu tun. Sie erzählt Marlena sogar von ihrem eigenen, geheimen Problem. Von ihrer Zwangsstörung und dass es ihr durch diesen Stress noch viel schwerer fällt, ihr Gehirn zur Ruhe zu zwingen. Dass sie darauf gehofft hat, Fußball könnte ihr in dieser Situation helfen, aber das sei ja nun auch gefährdet. Und wie dieses Partnersystem alles ruinieren wird, denn sie kann nicht einmal mehr joggen gehen, wenn sie Lust dazu hat. Wie viel Angst sie hat und dass sie sich fragt, wer wohl als Nächstes verschwindet.
    Es ist schon nach neun, als Mrs Fletcher Kendall abholt. Sie kommt einen Augenblick herein und stellt einen Plastikbehälter auf den Küchentresen. Sie begrüßt schnell Marlena und unterhält sich ein wenig mit ihren Eltern in der Küche. Kendall, die sich plötzlich verwundbar fühlt, umarmt Marlena vorsichtig zum Abschied und geht nach draußen, wo Hector am Geländer der großen umlaufenden Veranda steht und Jacián zusieht.
    »Vielen Dank, dass Sie mich dazu gebracht haben, über Nico zu sprechen«, sagt Kendall. »Ich fühle mich wirklich besser.«
    Lächelnd nickt Hector.
    »Es tut immer weh, aber es hilft«, erwidert er. »Zum Glück bist du nicht so dickköpfig wie andere.«
    Kendall sieht zu Jacián. Er ist jetzt langsamer. Sie kann sich vorstellen, wie erschöpft er sein muss. Als er auf dem feuchten Gras ausrutscht, stürzt er und bleibt keuchend liegen.
    »Ich denke, wir haben alle unsere eigene Art und Weise, mit Problemen umzugehen«, meint sie. »Manchmal ist es sogar logisch.«
    Hector drückt ihr die Hand.
    »Danke, dass du gekommen bist. Werden wir dich morgen wiedersehen? Marlena wird ein paar Tage nicht in die Schule können.

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