Cryer's Cross
er aufsieht. »So kann es funktionieren.« Er wendet sich an die Jugendlichen. »Könnt ihr beide an den Schultagen bei Kendall vorbeifahren?«
Jacián schweigt, und wegen der Dunkelheit kann Kendall seine Reaktion nicht einschätzen. Aber Marlena ist begeistert.
»Klar. Das machen wir gerne.«
Sie steigt ab, geht zu Kendall und umarmt sie kurz.
»Es tut mir so leid. Es muss schrecklich für dich sein«, sagt sie leise.
Kendall schnürt sich die Kehle zusammen. Sie nickt nur, sprechen kann sie nicht.
»Wir haben meilenweit gesucht, bis in die Berge und den Cryer’s Pass hinauf, am Wald entlang und zurück.«
»Das ist toll«, sagt Kendall ohne wirkliche Begeisterung. Ihr tut alles weh. Sie will nur noch ins Bett fallen und alles vergessen.
»Jacián und ich können dich nach Hause bringen, wenn du willst. Du siehst müde aus.«
»Mein Dad holt mich ab. Vielen Dank.« Sie schläft fast im Stehen ein.
Zu Hause überprüft sie alle Fenster und Türen im Haus, bevor sie ins Bett fällt.
Wir
Die Stille beunruhigt uns, rüttelt unsere gequälten Seelen auf. Wir irren herum, enttäuscht, ruhelos, stoßen andere aus dem Weg. Wir suchen nach neuem Leben. Dann werden Wir still und kehren an Unseren Ort zurück. In der Erinnerung. Hoffend.
Wir sparen Unsere Energie
für einen neuen Tag.
10
Nach einer chaotischen Woche wird die Suche nach Nico Cruz abgebrochen. Sie haben jeden zugänglichen Winkel des Tales zu Fuß durchgekämmt. Jeder Amerikaner mit Fernsehanschluss hat von der merkwürdigen Situation im »malerischen« Cryer’s Cross, Montana, gehört, wo im Frühling die junge, unschuldige Tiffany verschwand und nur ein paar Monate später der ältere Bad Boy Nico – wahrscheinlich, weil er sie getötet hat. Oder er hat sie einer Gehirnwäsche unterzogen, damit sie sich drei Monate lang versteckt hält und die Leute davon überzeugt sind, dass ihre beiden Fälle nichts miteinander zu tun haben.
Ganz zu schweigen von Nicos stiller Freundin Kendall. Sie verhält sich unauffällig und weigert sich, mit den Reportern zu sprechen. Weiß sie etwas? Die Spekulationen nehmen kein Ende.
Kendall kann es nicht ertragen.
Jeden Morgen wacht sie auf und muss daran denken. Und jeden Abend um elf Uhr bleibt ihr Telefon still. Mehr als einmal will sie Nicos Nummer wählen, nur um eine Art Verbindung zu spüren, aber sie will seine Familie nicht erschrecken, sie nicht daran erinnern und sie zwingen, ihren persönlichen Horror noch öfter zu durchleben, als sie es ohnehin schon tun.
Im Laufe der Woche fühlt Kendall Schock, Trauer, Enttäuschung und Wut. Die Nachrichtenteams fangen an, sich zu langweilen, denn es gibt nur ein Restaurant, in dem sie essen können, und das nächste Fast-Food-Restaurant ist dreißig Meilen weit weg. Sie sind die loyalen, schweigsamen Einwohner leid. Sie versuchen, einen neuen Blickwinkel zu finden, aber die Menschen in Cryer’s Cross sind ruhig und halten zusammen. Selbst Jacián sieht sie nur an und geht weiter, wenn sie ihm Fragen zurufen.
Kendall sitzt auf den Stufen des Restaurants und wartet darauf, dass ihre Mutter ihr Gespräch in der Drogerie beendet. Sie schiebt sich das Haar aus der Stirn, doch es fällt wieder zurück, als sie auf ihre Hände schaut. Hinter ihr sitzen der alte Mr Greenwood und Hector Morales auf ihren Stammplätzen und schweigen. Wie üblich.
Jacián kommt auf sie zu.
» Abuelo «, sagt er scharf. »Kommst du jetzt mit mir?«
Kendall bemerkt, dass er einen leichten Akzent hat, wenn er mit seinem Großvater spricht.
Jacián ignoriert Kendall und geht an ihr vorbei die Treppe hinauf.
Hector sieht auf und sagt etwas auf Spanisch zu ihm. Jacián erwidert etwas und wendet sich dann ab, läuft die Treppe hinunter und schwingt sich auf sein Quad. Er fährt allein los.
Kendall dreht sich um und blinzelt Hector an.
»Jacián soll doch nicht allein fahren. Er könnte verhaftet werden.«
Hector lächelt, wirkt aber besorgt. »Das ist schon in Ordnung. Er ist schon achtzehn und ein Dickkopf. Was soll ich machen? Der Sheriff sagt, es sei legal, dass er allein unterwegs ist, wenn auch dumm. Aber es ist nett von dir, dass du dir Sorgen um ihn machst.«
»Ich mache mir keine Sorgen um ihn«, erwidert Kendall verärgert. Wie soll sie das erklären? Ihr innerer Ordnungszwang drängt sie, etwas zu sagen.
»Es tut mir leid, Kendall. Wirklich. Das mit dem Cruz-Jungen. Ich weiß, dass er dein Verehrer war.«
Kendall starrt auf die Erde zwischen den Stufen.
»Er ist nicht
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