Cryer's Cross
allem, was geschehen ist, wieder hier zu sein. Sie zieht an den Vorhängen in ihrer Reichweite und tut so, als wolle sie draußen nach jemandem sehen, während sie sie zurechtzieht. An ein Fenster kommt sie nicht heran, weil Leute davorstehen. Sie beißt sich auf die Lippe und versucht, sich irgendwie einen Weg zum Vorhang zu bahnen, doch schließlich gibt sie auf und belässt es dabei. Sie eilt in den Bereich der Zwölftklässler, versucht unterwegs noch ein paar Pulte geradezurücken und hat das Gefühl, völlig versagt zu haben. Sie weiß, dass es nicht in Ordnung ist. Sie bemerkt nicht, dass Jacián sie neugierig beobachtet.
Kendall setzt sich auf ihren Platz neben Jacián und trommelt nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Es wird sie den ganzen Tag lang beschäftigen. Vielleicht kann sie in der Mittagspause etwas daran ändern.
Und dann, als sie ihren Rucksack auf den Boden stellt, wendet sie sich nach rechts, wie sie es seit zwölf Jahren jeden Tag getan hat. Um mit Nico zu sprechen.
Doch dort ist niemand. Sein Platz ist leer.
Jedes schreckliche Detail prasselt wieder auf sie nieder. Alle Emotionen – Überraschung, Trauer, Angst, Wut. Sie schnappt nach Luft, als sie den Moment erlebt, den sie seit Tagen fürchtet, und sie spürt ein Schluchzen so schnell und heftig in sich aufsteigen, dass sie es nicht unterdrücken kann.
»Scheiße«, stößt sie hervor. Sie vergräbt den Kopf in den Armen und kämpft so lange wie möglich dagegen an. Sie will nicht mehr weinen. Vor allem nicht hier. Nicht vor all den anderen. Kendall muss stark sein. Sie ist taff. Sie ist mit den Jungs um sie herum aufgewachsen. Sie hat mit ihnen rumgetobt, sich verletzt und nicht geweint. In der siebten Klasse hat sie sich beim Völkerball die Nase gebrochen, als ihr Eli Greenwood aus kaum zwei Meter Entfernung und mit voller Wucht einen Ball ins Gesicht warf, und da hat sie auch nicht geweint. Zumindest nicht richtig, sondern nur diese stechenden Tränen, die einfach kommen, wenn man eins auf die Nase bekommt. Und einmal hat sie sich sogar den Arm gebrochen, als sie am höchsten Punkt von der Schaukel gesprungen ist, am Fluss, wo Nico gerne mit seinem Vater angelte. Sie hat das Wasser total verfehlt und ist am Ufer gelandet. Es war ein sehr trockener Sommer.
Doch sie hat nicht geweint. Allerdings hat Nico sie nach Hause getragen. Der Knochen stach ein wenig durch die Haut ihres Unterarms, und auch wenn sie meinte, getragen zu werden sei nicht notwendig, machte sie der Anblick ihres eigenen Knochens doch ein wenig zu schwach, um sich zu sehr dagegen zu wehren.
An diesem Tag hat er sie das erste Mal geküsst.
Und hier sitzt sie nun und heult vor all den Jungen, mit denen sie aufgewachsen ist.
Das heißt, vor fast allen. Der Wichtigste von ihnen fehlt.
Dieser Gedanke lässt sie nur noch mehr weinen.
Kurz darauf spürt sie eine Hand an ihrer Schulter und hört eine Stimme an ihrem Ohr.
»Schon gut, Kendall.«
Es ist die Stimme von Eli Greenwood. Kendall holt tief und bebend Luft und versucht erneut, ihren Kummer zu bändigen. Sie hebt den Kopf. Eli weint auch.
Sie sucht in ihrem Rucksack nach einem Taschentuch.
»Tut mir leid, Jungs. Ich bin echt bescheuert.« Sie ist verlegen. »Wo sind nur die Taschentücher, wenn man sie mal braucht?« Ihre Nase muss knallrot sein. Sie schnieft heftig.
»He, Kumpel, schon in Ordnung«, sagt Travis hinter ihr. Selbst Brandon ist still. Sie sieht ihn an. Er wirkt elend.
Es hat sie alle getroffen. Den Zwölftklässlern geht Nicos Verschwinden viel näher als das von Tiffany Quinn. Kendall glaubt, ein wenig besser verstehen zu können, wie sich Tiffanys Freunde gefühlt haben müssen. Sie sieht zu den Zehntklässlern und bemerkt den Blick von Tiffanys bester Freundin Jocelyn, die sie mitfühlend anlächelt. Dankbar erwidert Kendall das Lächeln.
Jacián, der zu allem geschwiegen und sie nur beobachtet hat, zeigt nach vorne, wo Ms Hinkler versucht, die Aufmerksamkeit ihrer Schüler auf sich zu lenken.
»Brauchst du immer noch ein Taschentuch?«, fragt er rau. »Ich hole dir eins.«
»Nein, geht schon«, entgegnet Kendall. »Danke.«
Jacián nickt, und Eli geht an seinen Platz zurück. Alle setzen sich und versuchen, sich zu konzentrieren.
Für die meisten ist die einzige Möglichkeit, darüber hinwegzukommen, irgendwie weiterzumachen.
13
Irgendwie schafft sie es bis zur Mittagspause, wo sie die Gelegenheit hat, die Vorhänge und Tische gerade auszurichten. Nach draußen an ihren
Weitere Kostenlose Bücher