Cryer's Cross
tot«, erklärt sie. »Er ist immer noch mein … Verehrer.«
Das altmodische Wort lässt sie zusammenzucken. Es ist seltsam. Je länger Nico verschwunden ist, desto leichter fällt es ihr, ihn als ihren festen Freund zu bezeichnen.
Hector schweigt. Kendall sieht zu ihm auf, vielleicht ist er ihr ja böse wegen ihres Tonfalls, aber er lächelt sie nur mitfühlend an.
»Wo ist Marlena?«, fragt sie. »Hat sie heute auch gesucht?«
»Sie ist gestern Abend gestürzt und daher heute zu Hause geblieben. Sie ist in eine Furche geraten, die unter einem Busch verborgen lag, und mit dem Quad umgekippt. Sie wird ein wenig unvorsichtig und fährt zu schnell.« Er spricht leise und legt die Hand vor den Mund. »Aber lass das bloß die Nachrichtenleute nicht wissen!«
»Oh, nein«, verspricht Kendall und befreit sich einen Moment lang von ihrem eigenen Elend. »Geht es ihr gut?«
Sie muss plötzlich daran denken, dass heute eigentlich das erste Fußballspiel der Saison stattfinden sollte, aber der Trainer es wegen Nico abgesagt hat.
»Sie hat sich das Bein gebrochen und die Schulter ausgekugelt«, antwortet Hector. »Das wird schon wieder.«
Kendall reißt die Augen auf. »Oh mein Gott, das ist ja schrecklich!« Sie legt eine Hand an ihren Hals. »Ich fasse es nicht. Das tut mir so leid, Hector. Ich hatte ja keine Ahnung. Kann ich irgendetwas tun?«
Er legt den Kopf schief und sieht Mr Greenwood an. »Wie ich immer zu sagen pflege, in harten Zeiten brauchen Menschen gute Freunde. Nicht wahr, mein Freund?«
Mr Greenwood grunzt.
Endlich kommt Kendalls Mum aus der Drogerie und drückt Hector die Hand.
»Ich habe gerade das von der armen Marlena gehört«, flüstert sie. »Es tut mir so leid. Ich bringe Kendall heute Abend vorbei.«
Hector hebt eine Augenbraue und sieht Kendall an, als wolle er sagen Siehst du? So macht man das . Aber er sagt nur: »Ja, Ma’am, da wird sie sich freuen.«
Als Mrs Fletcher und Kendall nach Hause gehen, werden sie von den Trucks der Nachrichtenleute überholt, die in einer Staubwolke aus Cryer’s Cross verschwinden. Für sie ist die Geschichte vorbei.
11
Kendall sitzt schweigend neben ihrer Mutter, als diese sie zu Hectors Ranch fährt. Sie ist müde. Noch nicht ganz bereit, das Leben wieder aufzunehmen.
»Ruf mich an, wenn ich dich abholen soll.«
»Okay.« Kendall seufzt. »Wie wäre es mit jetzt?«
»Es wird dir guttun, eine Weile an jemand anderen zu denken«, sagt Mrs Fletcher vorsichtig. »Es hilft dir, mit allem fertigzuwerden.«
Kendall hat keine Tränen mehr. Sie ist zu erschöpft, um auszusprechen, was sie und ihre Mutter beide wissen – dass Nico wahrscheinlich wie Tiffany auf unerklärliche Weise für immer verschwunden ist und dass das Leben weitergehen muss. In einem ländlichen Dorf ist das einfach eine Frage des Überlebens. Die Ernte, die Tiere – nichts kann lebendige Dinge daran hindern, zu wachsen. Nicht ein einziges menschliches Ereignis lässt die Kartoffeln warten. Wenn sie reif sind, sind sie reif.
***
Kendall bleibt vor der Tür von Hectors Haus stehen, während ihre Mutter die lange Auffahrt zurückfährt. Auf der Wiese zwischen dem Haus und einer Koppel entdeckt sie Jacián. Ein Flutlicht beleuchtet ein Fußballtor. Im Gras und um das Netz herum liegen ein halbes Dutzend Fußbälle. Jacián dribbelt einen davon langsam, täuscht dann links an und umgeht einen unsichtbaren Gegner. Dann spielt er sich den Ball selbst zu, rennt auf das Tor zu und schießt den Ball aus spitzem Winkel hinein.
Er bewegt sich wie ein Tänzer.
Als er sich bückt, um den Ball aufzuheben, sieht er Kendall. Einen Augenblick lang starren sie sich an, dann wendet sich Kendall ab und klopft an die Tür.
Mr Obregon lässt sie herein. Er und Mrs Obregon begrüßen sie herzlich und danken ihr für ihr Kommen. Sie bringen sie ins Wohnzimmer, wo Marlena auf dem Sofa liegt. Ihr rechtes Bein ist bis zur Mitte des Oberschenkels eingegipst und ihre linke Schulter in einer Schlinge fixiert. Neben ihr sitzt Hector in einem alten Schaukelstuhl. Marlena hat die Augen geschlossen, aber als Kendall hereinkommt, rührt sie sich.
»Hey«, begrüßt sie sie mit schläfrigem Lächeln. Auf dem Boden neben ihr liegt eine einzelne Krücke.
»Hey«, erwidert Kendall und blickt sie an. »Wow. Haben sie dich über Nacht im Krankenhaus behalten? Das sieht ja … richtig ernst aus.«
Marlena grinst. »Ja, aber es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Es ist ein kleiner, glatter Bruch – das heißt
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