Cryer's Cross
Stammplatz zu gehen, um zu essen, erträgt sie nicht. Sie erträgt ja kaum den Anblick von Nicos Pult. Es ist so leer. So kalt.
Am Nachmittag kann sie sich gar nicht mehr konzentrieren, und Ms Hinkler gibt ihr sogar die Erlaubnis, den Kopf auf den Tisch zu legen und nur zu versuchen, die Zeit durchzustehen.
Nach der Schule will Kendall nichts lieber als Fußball spielen, um den Wirbelsturm aus ihren Gedanken zu bekommen. Sie will sich die Trauer und die Sorge wegtrainieren und zur Abwechslung mal an etwas anderes denken.
Im Umkleideraum ist sie wegen Marlenas Verletzung wieder alleine, und sie wünscht sich, dass der Trainer mehr Spieler für das Team gefunden hat, bevor sie noch ein Spiel ausfallen lassen müssen. Das nächste ist für morgen in Bozeman angesetzt. Sie läuft auf das Feld und beginnt, sich warm zu machen. Bei jeder Dehnung zählt sie bis dreißig und zählt die Schritte, als sie an ihren Platz joggt. Langsam kommen die anderen dazu. Sicherheitshalber zählt sie auch sie.
Vier Zwölftklässler. Ein Neuntklässler. Nur noch ein Zehntklässler. Sechs.
Der Trainer verspätet sich, und das Team wärmt sich mit einem Übungsspiel drei gegen drei auf. Kendall fühlt sich unwohl ohne Nico. Sie haben so oft miteinander gespielt, und zwischen ihnen herrschte eine nonverbale Kommunikation, die sie über Jahre hinweg aufgebaut hatten. So etwas ist nicht leicht zu ersetzen.
Auch Jacián scheint sich ohne seine Schwester etwas verloren zu fühlen. Die beiden bilden zusammen mit Brandon ein Team und versagen kläglich, als sei es ihr allererstes Fußballspiel.
Sie spielen zwanzig qualvolle Minuten, bis der Trainer kommt. Als er das Feld betritt, bleiben alle stehen. Er winkt sie heran.
»Jungs«, sagt er.
Zum ersten Mal fallen Kendall die Fältchen um seine Augen auf. Er sieht müde aus. Er wartet darauf, dass alle schweigen, wirft einen Blick auf sein Klemmbrett und spielt mit der Pfeife um seinen Hals.
»He, Leute, hört mal her. Schön, euch wiederzusehen.« Er lächelt verbissen. »Ich wünschte nur, es geschähe unter besseren Umständen. Im Moment fehlen uns zwei unserer Besten. Jacián, bringst du uns auf den neuesten Stand?«
»Sie hatte eine unruhige Nacht, aber sie ist zäh.« Jaciáns dunkle Haut glänzt vor Schweiß in der Nachmittagssonne. »Aber der Arzt sagt, dass sie diese Saison nicht mehr spielen kann.« Er senkt den Blick. »Tut mir leid, Leute. Sie fühlt sich echt schlecht deswegen.«
Kendall sieht aufs Gras.
»Und mittlerweile wisst ihr ja alle, dass wir nur noch sechs sind. Letztes Jahr haben wir mit neun gespielt, und das war schon schwer. Zu acht wäre es dieses Jahr wahrscheinlich fast unmöglich gewesen. Bei einem einzelnen Spiel mag das ja noch gehen, aber jedes Spiel, die ganze Saison lang …« Er hält inne und schüttelt den Kopf, als wolle er die nächsten Worte eigentlich nicht aussprechen.
»Ich habe gestern Abend ein Dutzend Telefonate geführt, Leute. Und ich habe nicht einen neuen Spieler gefunden, der infrage kommt. Nicht einen. Es gab nicht einmal jemanden, der zögerte oder schwankte oder mir ein Vielleicht gab. Wir haben ein Drittel der Schüler für unser Fußballteam engagiert. Das ist, prozentual gesehen, um einiges mehr als an den meisten anderen Schulen im Land. Aber das ist die Grenze.« Wieder verstummt er und seufzt. »Wir sind am Ende, Leute. Es tut mir leid, aber das ist für uns das Ende der Fahnenstange.«
Das ganze Team starrt zu Boden. Keiner traut sich, aufzusehen.
»Es tut mir besonders für euch Zwölftklässler leid, da ihr euer letztes Spiel als Elftklässler gemacht habt. So sollte eure Karriere nicht enden.«
Er sieht Jacián und den Rest der Gruppe an. »Einige von euch haben echtes Talent und können vielleicht in einem College-Team spielen. Ich hoffe, ihr versucht es. Übt allein weiter und gebt nicht auf.«
Der Trainer nimmt die Baseballkappe ab, streicht sich über die kurzen Haare und setzt sie wieder auf. »Das war’s. Es tut mir leid. Wir haben unser Bestes gegeben. Ich bin noch eine Weile hier auf dem Gelände, falls jemand mit mir sprechen möchte.« Einen Moment lang bleibt er fast unsicher stehen und geht dann langsam zum Schulgebäude zurück.
Das Team steht wie erstarrt da. Nur langsam wird ihnen klar, dass die Fußballsaison vorbei ist und sie ihrem Trainer zum letzten Mal nachsehen. Für einige ist die Fußballkarriere gelaufen, und das ist schwer zu verkraften.
Einen Moment später stürmt Jacián davon, allerdings
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