Cryer's Cross
denn, was passiert ist?«
Kendall muss an das Pult denken. Und daran, wie merkwürdig Nico sich verhalten hat. Dass sie das Gefühl hatte, in Trance zu sein, als sie gestern dort saß. Und über den Zufall, dass Nico und Tiffany beide an demselben Tisch gesessen hatten und dass Nicos Auto vor der Schule gestanden hatte, als er verschwunden ist.
»Kendall? Alles klar?«
Sie sieht ihn an.
»Wenn ich dir etwas Verrücktes erzähle, wirst du mich dann … na ja … auch für verrückt halten?«
»Wahrscheinlich schon.« Er grinst, um ihr zu zeigen, dass das ein Witz sein soll.
»Du weißt doch von Tiffany, dem Mädchen, das im Mai verschwunden ist? Sie und Nico saßen am selben Tisch.«
Jacián schweigt.
»Es ist nur ein Zufall. Ich meine, wem wäre so etwas schon aufgefallen außer meiner zwangsgestörten Wenigkeit.«
»Ja«, antwortet Jacián langsam. »Das ist ein merkwürdiger Zufall.« Er sieht Kendall mit gerunzelter Stirn an und denkt nach, doch er sagt nichts dazu.
»Du hältst mich für verrückt.«
»Du bist verrückt. Aber das ist nichts Schlimmes.«
Sie kommen auf ein großes, offenes Feld, auf dem Rinder herumlaufen.
»Gehören die euch?«, fragt Kendall.
Jacián reitet näher heran, um nach dem Brandzeichen zu sehen.
»Sieht ganz so aus.«
»Wer treibt sie denn zusammen, wenn der Winter kommt?«
»Meine Eltern, ich, und wenn sie dann schon wieder auf ein Quad steigen darf, Marlena.«
»Reitet Hector auch noch?«
»Nicht auf Quads. Aber auf Pferden? Klar, das gibt er wohl nie auf.«
»Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr auf einem Pferd gesehen. Wie geht es ihm denn?«
»Er geht es etwas lockerer an. Jetzt, wo meine Eltern hier sind, ist er sozusagen auf ›Halbpension‹. Er verbringt eine Menge Zeit mit dem alten Mr Greenwood.«
Kendall überlegt. »Er hat gesagt, sie seien seit der Teenagerzeit befreundet.«
Jacián nickt. »Sie sind beide in derselben Besserungsanstalt gewesen.«
»Was?« Kendall zieht an den Zügeln ihres Pferdes. »Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst. Er hat es mir neulich erzählt.«
»Hier in der Gegend?«
»Nicht weit von hier. Nur ein paar Meilen. Wenn man dem Viadukt bis ins Nirgendwo nach Norden folgt, kommt man an eine überwachsene Kieseinfahrt. Wenn man nicht weiß, dass sie da ist, sieht man sie gar nicht. Als wir nach Nico gesucht haben, waren wir am hinteren Ende des Geländes, das eigentlich in Luftlinie viel näher an der Ranch liegt, aber von dort aus völlig unzugänglich ist«, erzählt Jacián. »Die Einrichtung wurde schon vor langer Zeit geschlossen und steht seitdem leer. Jetzt ist alles total überwuchert. Grandpa wollte nicht mal in die Nähe.«
»Warum?«
»Er sagt, es war ein böser Ort. Er wollte auch nicht darüber reden. Er hat nur gesagt, dort ginge er nie wieder hin. Zu viele Erinnerungen.«
»Der arme Hector. Er ist so nett.«
»Schade, dass davon nichts auf mich abgefärbt hat, was?« Jacián grinst.
Kendall muss lachen. »Genau das habe ich anfangs von dir gedacht. Weißt du noch, als du mir erklärt hast, wie ich das Fleisch in die Gefriertruhe sortieren soll? Ich bin fast ausgeflippt. Am liebsten hätte ich dich geschlagen.«
»Das ist mir durchaus aufgefallen. Aber du musst ein bisschen nachsichtiger sein. Ich wusste ja nichts von deiner … ähm … besonderen Gabe. Du weißt schon, dass die Art, in der du es sortiert hast, völlig unlogisch war, oder?«
»Klar weiß ich das, aber das kann dir doch egal sein, oder? Bist du so eine Art Kontrollfreak?«
»Vielleicht ein wenig. Nicht mehr sehr viel. Ich habe es aufgegeben.« Er lacht ein wenig bitter. »Offensichtlich habe ich im Moment über nichts mehr die Kontrolle.«
Eine Weile schweigen sie. Der Pfad vor ihnen schlängelt sich zu einem weiten, offenen Gebiet. Jacián schnalzt mit der Zunge und neigt sich nach vorne, sodass sein Pferd erst in Trab und dann in Galopp verfällt. Kendall setzt ihm nach, und eine Viertelstunde lang jagen sie sich gegenseitig bis zum Waldrand.
»Das war toll!« Kendalls Wangen glühen. Sie steigen ab, und sie kramt ihr Picknick aus den Satteltaschen hervor. »Das ist ein Spitzentag. Danke, dass du mich dazu überredet hast.«
Jacián legt sich auf die Decke, rupft einen langen, weizenartigen Grashalm aus und kaut daran.
»Ja, ich musste dich ganz schön bearbeiten.«
Kendall lässt sich neben ihn fallen.
»Ach, hör auf damit! Warum müssen wir uns immer streiten?«
»Weil es Spaß macht?«
Kendall schlägt ihm
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