Cryer's Cross
erhält keine Antwort.
»Hi, Mum«, sagt sie dem Anrufbeantworter und überlegt schnell. »Ich bin wieder bei Hector. Ja. Ähm. Es war schön. Hol mich einfach ab … egal wann …« Sie bricht ab. »Okay. Bis gleich!«
Kendall legt auf und lächelt mit einer Fröhlichkeit, die sie nicht verspürt.
»Meine Mum ist gleich hier. Ich warte draußen. Vielen Dank für … na ja, die Pferde und so. Für alles.«
Kendall dreht sich um, und Marlena und Mrs Obregon sehen ihr verdutzt nach.
Es wird gerade dunkel, als Kendall zwischen den Bäumen hindurchschlüpft und losrennt.
Sie sieht nicht, dass Jacián in der Auffahrt steht und ihr nachsieht.
Und sie weiß nicht, dass er spät am Abend an ihrem Haus vorbeifährt, als sie oben am Fenster steht und Nico weinend anfleht, ihr zu verzeihen.
Wir
Wieder allein, so lange. Dieses Mal warten Wir. Dieses Mal sind Wir sicher. Diese Wärme, dieser Herzschlag, dieses Leben … wird zurückkehren.
Ich brauche dich.
22
Die ganze Nacht träumt Kendall von dem Pult und von Nico. Am Sonntag schläft sie lange, wacht aber mit einem Schrecken auf und fragt sich, was ist … wenn Nico, wo immer er auch ist, versucht, ihr eine Nachricht zu schicken? Was ist, wenn es nicht ihre Einbildung oder ihre Trauer oder ihre Zwangsneurose ist, sondern wenn es echt ist?
Orientierungslos setzt sie sich auf. In ihr Zimmer fällt heller Sonnenschein.
Was ist, wenn Nico tatsächlich irgendwie mit ihr kommunizieren kann? Und wenn sie die ganze Zeit über seine Hilferufe ignoriert hat?
Doch als sie unter der Dusche steht, lacht sie wieder darüber.
»Fletcher«, mahnt sie sich, »reiß dich gefälligst zusammen, ja?«
Während sie sich anzieht, fragt sie sich, ob sie nicht doch noch einmal zu ihrer Hirnklempnerin sollte. Es ist nicht so, dass sie die Ärztin nicht mag. Sie hat ihr in den schweren Zeiten wirklich geholfen. Aber Kendall hat das Gefühl, als sei das ein Rückschlag. Was es vielleicht auch ist.
»Kann wahrscheinlich nichts schaden, mal wieder hinzugehen«, murmelt sie.
Kendall ist allein zu Haus und isst einen Muffin, während sie das Geschenk für Marlena einpackt – ein Paar Ohrringe mit kleinen Topasen. Aus Langeweile beschließt sie, ein paar Kekse zu backen, die sie mit zur Party nehmen will.
Um zwei Uhr zappt sie durch die Fernsehkanäle, schaut sich Fernsehprediger, Werbung und Cartoons an. Sie geht nach draußen, um nachzusehen, ob ihre Eltern zurückkommen, aber dort ist niemand außer der Vater des blöden Brandon, der am Wochenende bei der Ernte hilft. Also geht sie wieder hinein und wartet weiter.
Sie haben es bestimmt vergessen.
Um Viertel vor drei klingelt das Telefon.
»Hallo?«
»Wo bist du?«, erkundigt sich Marlena schmollend.
»Ich warte darauf, dass meine verehrten Eltern zurückkommen, damit sie mich fahren können. Ich glaube, sie haben es vergessen.« Im Hintergrund kann sie Musik und Gelächter hören.
»Warum hast du denn nicht angerufen? Jacián holt dich ab. Jacián!«, schreit sie am Telefon vorbei. »Geh und hol Kendall ab!«
»Nein, schon gut …«
»Er ist schon unterwegs. Kein Problem.«
Seufzend legt Kendall auf, schreibt ihren Eltern eine Notiz, nimmt den Mantel, das Geschenk und die Kekse und wartet vor der Tür.
»Danke«, sagt Kendall beim Einsteigen. »Tut mir leid.«
Jacián trägt eine Schürze und riecht nach Rauch. Doch er winkt nur ab und rast zurück zur Ranch.
Kendall hält sich an der Armlehne fest. »Willst du unbedingt einen Strafzettel bekommen?«
Jacián zuckt mit den Schultern.
»Der Sheriff sitzt bei uns zu Hause, trinkt Margaritas und isst Carne asada, und mir brennen wahrscheinlich die Paprika an.«
»Du kochst auch?«
»Nein, ich grille. Kochen kann ich nicht.«
Er rast die Einfahrt entlang, parkt neben ein paar anderen Fahrzeugen und springt aus dem Wagen, kaum dass er den Motor abgestellt hat. Im qualmerfüllten Hof brennt ein offenes Feuer mit einem großen Grill darüber. Jacián greift sich eine Zange und beginnt verkohlt aussehende Sachen darauf umzudrehen.
Kendall sieht ihm einen Moment lang zu, dann geht sie ins Haus und begrüßt Marlena mit einer Umarmung. Eli, Travis und der blöde Brandon sind auch da, sowie ein paar Elftklässler und die Mädchen aus der Zehnten, mit denen sich Marlena angefreundet hat. Alle unterhalten sich lautstark, und im Hintergrund spielt lateinamerikanische Musik. Mindestens ein Viertel der Einwohner von Cryer’s Cross sind hier. Mrs Obregon steht am Mixer und macht
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