Cryer's Cross
auf die Brust, aber dieses Mal ist er vorbereitet. Er packt ihren Arm, drückt ihn an seine Brust und zieht sie näher zu sich heran.
»Lass das.«
Kendall bemüht sich einarmig, sich aufzusetzen. Auf ihrem Gesicht spiegelt sich Überraschung.
»Was soll ich lassen?« Durch sein Hemd spürt sie seine Körperwärme. »Ich glaube, du hast Angst, mich zu mögen.« Jaciáns dunkle Augen bohren sich in die ihren, bevor er weiterspricht. »Wenn du mich anfassen willst, Kendall, dann tu es einfach, aber versteck es nicht hinter diesen albernen Mädchenklapsen.«
Sie reißt die Augen auf und starrt ihn an, während sich in ihrer Magengrube ein seltsames Gefühl breitmacht. Etwas Unglaubliches. Und ein wenig Beängstigendes. Etwas, was sie noch nie zuvor gefühlt hat. Doch sie bringt nur hervor:
»Wieso glaubst du, dass ich dich anfassen will? Ich habe einen Freund, und du hast eine Freundin.«
»Ist das so?«
Kendall schluckt schwer. »Das scheint doch völlig klar.«
Jacián hält ihren Arm noch einen Moment länger fest, und nur ein Zucken des Augenlids und seines Mundwinkels deuten an, dass er sie gehört hat. Dann lässt er sie los.
»Ist auch egal.«
Er räuspert sich und steht auf, um ein paar Äpfel und etwas Hafer für die Pferde aus seiner Satteltasche zu nehmen.
Kendall starrt ihn von der Decke aus an. Dann schüttelt sie den Kopf und packt das Lunchpaket aus. Sie sortiert den Obstsalat in ihrer Schüssel, bevor sie ihn isst, doch sie schmeckt rein gar nichts. Sie hat das Gefühl, Sägemehl im Mund zu haben. Denn eines ist klar, obwohl sie das nie zugeben wollte:
Bei Nico, der alles für sie tun würde und seit ihrer Geburt ihr bester Freund ist, hat sie sich nie so gefühlt. Nie. Nie hat er es mit einem Blick oder einer Berührung in ihrem Bauch kribbeln lassen. Nie hat er sie so heiß gemacht, dass sie ihn umwerfen und küssen wollte, sich an ihn schmiegen und auf einem Feld herumrollen wollte und es ihr sogar egal wäre, wenn sich Grashalme in ihrer Kleidung verfangen würden.
»Willst du nichts essen?«, bricht sie nach einer Weile das Schweigen.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Ich habe dir ein Lunchpaket gemacht.«
»Danke, aber ich habe trotzdem keinen Hunger.«
Kendall sieht ihn böse an. Wie kann jemand, der eben noch so attraktiv war, auf einmal so unausstehlich sein? Wie auch immer, der perfekte Tag ist ruiniert.
Ruiniert von der Wahrheit.
Und das Schuldgefühl wächst. Das Schuldgefühl gegenüber Nico. Sie verflucht ihre eigene Schwäche. Er ist erst seit einem Monat fort. Es wäre nicht anders, wenn sie zur Juilliard und er nach Bozeman gegangen wäre.
Doch es ist anders. Es ist sogar ganz anders. Schlimmer, denn er kann nichts mehr dazu sagen. Schlimmer, denn was würden die Leute sagen, wenn sie ihn aufgäbe? Was würden Nicos Eltern sagen? Was, wenn er nicht tot ist? Sie stellt sich ihre Gesichter vor. Und seines.
Lass das , mahnt sie sich selbst. Sie darf nicht zulassen, dass ihre Gedanken sie in die Irre führen. Es ist nichts geschehen. Und es wird auch nichts geschehen.
Als das Schweigen peinlich und unerträglich wird, packen sie ihre Sachen zusammen und reiten zurück.
Sorgsam beginnt Kendall auf dem Weg zur Ranch die Schritte ihres Pferdes zu zählen. Selbst bei tausend kann sie nicht aufhören. Sie beschließt, nicht aufzuhören, bis sie einen Falken schreien hört.
Nach zweitausend überredet sie sich dazu, aufzuhören, wenn sie eine Trauertaube oder einen Falken hört. Bei dreitausend verspricht sie sich, dass sie aufhören kann, wenn sie ein Moorhuhn oder ein blödes Kaninchen sieht. Bei 3842 kommt endlich das Kaninchen.
Doch auch das Kaninchen löst ihr Problem nicht.
Also beginnt sie wieder bei null mit dem Zählen.
Ihre Beklemmung wächst. Sie hasst das. Sie will nur noch nach Hause.
Sie bringen die Pferde in die Scheune, und Kendall sieht Jacián verlegen dabei zu, wie er sich um die Tiere kümmert, sie abreibt, ihnen Futter und Wasser holt und ihnen Decken auflegt.
Er blickt sie nicht an. Schließlich dreht sie sich um und geht allein zum Haus. Sie klopft an die Tür, und Mrs Obregon öffnet ihr. Vom Ofen her schlägt ihr ein herrlicher Duft entgegen. Da sie mittags nur ein paar Stücke Obst gegessen hat, knurrt ihr Magen laut.
»Möchtest du zum Essen bleiben?«, fragt Mrs Obregon, als sie ihr das Telefon reicht.
»Ja!«, bittet Marlena. »Bleib!«
»Ich sollte eigentlich nach Hause.« Kendall ruft ihre Mutter an und betet, dass sie abnimmt. Doch sie
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