Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
liebsten hätte man die Wange gegen das dichte weiße Fell geschmiegt und die Hände darin vergraben. Nur endeten die vier überlangen Extremitäten nicht wie bei Katzen üblich in Pfoten, sondern völlig anormal in fünffingrigen Händen. Der riesige Schädel dieses Tigers saß auf einem wahnsinnig langen Hals, der jedoch faltig wie der eines Mastiffs war. Zum Schlafen hatte er den Kopf auf den Rücken gelegt, ganz wie ein afrikanischer Flamingo. Die Zähne, die unter der struppig behaarten Lippe hervorragten, wiesen keine besonderen Kennzeichen auf, die hätten auch jedem anderen ausgewachsenen Tiger gehören können. Als hätte es gespürt, dass es angestarrt wurde, öffnete das Tier die Augen und streckte sich.
Sobald Artur den Blick dieser Kreatur auffing, wusste er, dass er den Palast nicht mehr auf eigenen Wunsch würde verlassen können.
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DIE FAMILIE RUBENS
Während er Daljar nacheilte, durfte sich Kowal davon überzeugen, dass im Winterpalast heute weit mehr Menschen als damals unter den russischen Zaren lebten. Der Palast hatte sich zu einer echten Metropole gemausert, genauer gesagt, zu einem gigantischen Zigeunerlager. Fast das gesamte Erdgeschoss und der Keller waren der Wirtschaft vorbehalten: Hier gab es eine Bäckerei, eine Schmiede, eine Tischlerei, einen Pferdestall, Werkstätten für Autos und Kutschen, einen Schuster und sogar eine kleine Bierbrauerei. Produziert wurde im Übrigen nicht nur für den eigenen Bedarf: Als Artur beispielsweise an einer Glasbläserei vorbeiging, bemerkte er eine ganze Batterie erkalteter Flaschen, die in Stroh lagen, als sollten sie irgendwohin geschickt werden.
Die kostbaren Parkettböden waren fast nirgends mehr erhalten, und anstelle der Gobelins zogen sich kilometerlange Telefondrähte die Wände entlang. Installateure hatten die alten Mosaike aus den Wänden herausgeschlagen und stabile Haken angebracht, um Wasserleitungen zu verlegen. Die Geländer der Marmortreppen waren zu Brennholz verarbeitet worden. Von den Spiegeln zeugten nur noch die Rahmen, dafür hatten die Gemälde und Statuen kaum unter der Invasion der Menschen gelitten. Die meisten der teuren Kunstwerke waren vor langer Zeit, noch vor der Ära von Pap Rubens, in den Keller gebracht und dort eingeschlossen worden. Die Schmuckstücke hatten leider kein solches Glück gehabt. Sämtliche Gegenstände aus Gold und anderen Edelmetallen waren Hammer, Zange und Säge zum Opfer gefallen. Hieb- und Stichwaffen und alles, was sich als Geschirr verwenden ließ, hatten sich die Menschen geschnappt. Kurz und gut, das Museum hatte sich in ein riesiges Wohnheim verwandelt, in dem jeder Quadratmeter dem Gott der Funktionalität gewidmet war.
Die meisten Säle im ersten Stock waren einzelnen Abteilungen vorbehalten, die Türen verschlossen. Artur meinte deshalb schon, in eine Kommunalverwaltung geraten zu sein. Daljar wies ihn auf die Immobilienmakler hin, die sich in einer Ecke zusammendrängten. Am begehrtesten waren die Wohnungen mit funktionierendem Kamin und Wasseranschluss. Man hatte erst vor ein paar Jahren angefangen, Toiletten einzubauen und Wasserleitungen zu legen, und diese Arbeiten waren immer noch in vollem Gange. Die Installateure beendeten gerade die Montage der Pumpstationen. Es fehlte jedoch an allen Ecken und Enden an Leuten, die wenigstens die einfachsten Berechnungen im Ingenieurhandwerk anzustellen vermocht hätten. Den leitenden Handwerker hatten sie laut Daljar für drei Monate aus Moskau abgemietet , für den stolzen Preis von vier Milchkühen und zwei Kisten mit Patronen für Pistolen. Vom eigentlichen Arbeitslohn ganz zu schweigen. Kowal wollte schon fragen, in welchen Devisen der Ingenieur sein Gehalt erhalten hatte, als sich eine höchst bizarre Prozession ankündigte.
Prompt liefen aus allen Richtungen Menschen zusammen, sowohl einzelne Personen als auch kleine Gruppen. Nach den einsamen Gassen auf der Petrograder Seite fühlte Artur sich bei diesem Gewusel endlich wieder wie ein Städter. Mit einem Mal packte Daljar ihn jedoch am Ärmel und zog ihn zur Seite. Auch ein paar Frauen vor ihnen drückten sich an die Wand. Nun kamen zwei Kraftbolzen mit Motorradhelmen die Treppe herauf. Jeder machte ihnen Platz. Der Kerl an der Spitze pfiff ununterbrochen mit einer Trillerpfeife, der Typ am Ende trug zu seiner Sicherheit einen breiten Plexiglasschild auf dem Rücken. Zwischen den beiden Bodyguards liefen sechs Kinder, die sich an den Händen hielten und neben diesen Muskelpaketen
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