Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
mehr oder weniger verschwanden, vier Jungen und zwei Mädchen, zwischen fünf und zehn Jahren alt. Die Gruppe trampelte durch den Gang, der Pfiff entfernte sich immer weiter, die Menge der Zuschauer löste sich auf, alle gingen wieder ihren Geschäften nach, fast als wäre überhaupt nichts geschehen. Mit einem Mal wurde Artur bewusst, dass er bisher kein Kind getroffen hatte, das allein durch den Palast tobte. Zweimal hatte er Teenager von vielleicht vierzehn Jahren gesehen, auch sie jedoch in Begleitung von Erwachsenen …
Daljar vermutete, dass im Moment gut viertausend Menschen im Palast lebten, die exakte Zahl konnte er aber nicht nennen. Artur hätte ihn am liebsten mit Fragen bombardiert, aber der Mann war und blieb ein einsilbiger Zeitgenosse. In einem Raum, an dessen vergoldeter Tür ein Schild mit der Aufschrift Sanitätsstelle prangte, nahm eine schwarzäugige Frau in grünem Kittel, mit Mundschutz und Gummihandschuhen Artur in Empfang. Noch ehe er sich umsehen konnte, hatte sie ihn schon freigemacht, ihm eine Spritze verpasst, ihm Mund und Ohren ziemlich grob untersucht und ihn unter die Dusche geschickt. Wasser! Mein Gott, was für ein Glück konnten doch zwei Eimer heißen Wassers bedeuten, die man sich über den Schädel goss! Mehr als diese zwei Eimer billigte man ihm allerdings nicht zu. Die Seife war schwarz und stank, aber auch dieses Surrogat schaffte es, dass seine Haut wieder ihre natürliche Farbe zurückgewann.
Kaum hatte er anschließend Pap Rubens’ Büro betreten, verstand er, woher die unrussischen Familiennamen kamen. An den Wänden hingen etliche Gemälde des gleichnamigen Malers. Die Kunst Flanderns hatte zwar allerlei klobigen Möbeln etwas Platz abgeben müssen, ansonsten sah der Saal aber so aus wie immer. Pap Rubens fand ohne jede Frage Gefallen an den Frauen mit den legendären Formen. Kowal ging jedoch nicht weiter auf diese Frage ein. Hier stieß auch Louis wieder zu ihnen, der einen frischen Verband verpasst bekommen und sich umgezogen hatte. Letzteres garantiert in großer Eile, denn die von Narben übersäten Arme ragten aus einem französischen Wams des 18. Jahrhunderts heraus.
Zwei Bodyguards mit Kalaschnikows verlangten von Artur, sich auszuziehen und seinen Rucksack zu öffnen. Die Pistole und die Eisenstangen musste er ihnen zur vertrauensvollen Aufbewahrung überlassen. Da es in diesem Raum von Menschen wimmelte, wusste Artur nicht auf Anhieb, wem er sich eigentlich vorstellten sollte. Vor einer riesigen, mit farbigen Markierungen versehenen Karte Petersburgs standen zwei alte Männer, die Militäruniformen, aber keine Rangabzeichen trugen, und wild mit der Kreide in ihren Händen fuchtelten. Eine Frau in einem Ledermantel fütterte ein paar Wolfsjungen in einem Käfig. Sie hockte mit einer Schale Fleisch auf den Schenkeln vor dem Gitter, drehte sich aber um, sobald es laut im Raum wurde. Kowal blickte in erstaunte braune Auge, sah eine leichte Stupsnase und rußbeschmierte rosige Wangen. Obwohl sie ihre Locken unter eine Mütze geschoben hatte, erkannte Artur in ihr sofort die Schützin aus der Kutsche wieder. Er nickte ihr so freundlich wie möglich zu, erntete im Gegenzug aber kein Lächeln. Die Frau wandte sich wieder den jungen Wölfen zu, die vor Ungeduld bereits jaulten.
An einem herrschaftlichen Schreibtisch voller Papiere saßen vier Männer und unterhielten sich. Artur schoss der Gedanke durch den Kopf, dass an diesem Eichenungetüm noch die russischen Zaren selbst gesessen haben könnten. Welche Bescheidenheit die heutigen Herrscher im Winterpalast doch an den Tag legten … Kowal fasste einen dicken Herrn mit gewaltigem Schnurrbart näher ins Auge – doch bei Pap Rubens handelte es sich dann um einen ganz anderen: Es war ein hagerer, sehniger Alter mit einer Zigarre im Mund. Er brachte das Kunststück fertig, an zwei Apparaten gleichzeitig zu telefonieren. Kaum bemerkte er jedoch Artur, beendete er die Gespräche und winkte ihn mit einer Geste heran.
»Ich bin ganz Ohr«, schenkte er Artur seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
Die nächsten zwanzig Minuten unterbrach ihn niemand. Zweimal ging Pap Rubens die Zigarre aus, zweimal beugte er sich über ein glühendes Kohlebecken, aus dem Räucherstäbchen herausstaken. Die Frau in dem Ledermantel zündete einen alten Primuskocher an und stellte einen einfachen Dreiliter-Kessel darauf, der mit dem Monogramm und der Krone des Zaren bemalt war. Mehrmals schrillten die Telefone, hintereinander, aber auch
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