Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
zur freundlichen Kenntnisnahme überlasse: Der kleine Mann glaubt, dass er das Recht hat, nur an sich zu denken, denn an uns alle denken ja schon die da oben. Das ist falsch. Ohne Kommentar.
Zweitens: Wenn vor Ihrem Fenster einmal im Monat ein Mensch erstochen wird, geraten Sie in Panik. Wenn so ein Mord einmal in der Woche geschieht, fangen Sie an, die Hintertür zu nehmen, und besorgen sich eine Pistole. Wenn aber täglich Leichen auftauchen, steigen Sie gelassen über sie hinweg, wenn Sie morgens zur Arbeit eilen. Wir haben uns an HIV gewöhnt, der Begriff ist nicht mal mehr das Modewort des Tages. Der Absatz von Kondomen ist leicht angestiegen, Drogenabhängige kaufen sich etwas öfter eine neue Spritze. Aber das ist auch schon alles. AIDS geht zwischen Werbespots unter, genau wie einst die Mode der atypischen Lungenentzündung, die Legalisierung von Marihuana und die Vogelgrippe. Der technotronische Terror, Schnüffelstoffe und andere drängende Fragen haben AIDS in eine Reihe mit Krebs und Infarkten gestellt. Sicher, an Herzerkrankungen sterben weitaus mehr Menschen, aber es ist eine Sache, ob in der Medizin ein Infarkt beschrieben wird, eine völlig andere jedoch, ob uns diese neue Seuche zusetzt.
Wie gesagt, wir haben uns an HIV gewöhnt.
Die dritte und letzte Beobachtung nun ist folgende: Ich bin es müde, für die Wissenschaft zu kämpfen. Sie, diese großen Staatsmänner, fragen nur: Was regen Sie sich denn auf? Die Migration von Wissenschaftlern ist ein ganz normaler Prozess! Weltweit!
Dagegen sage ich ja auch gar nichts. Sollen unsere Leute halt auswandern, wenn das angeblich so normal ist. Schließlich leben wir in einem freien Land, heißt es jedenfalls. Aber dann, und das ist meine Meinung, geben Sie uns wenigstens die zehn Millionen, die Sie sonst dem Ausland geben! Dann bringen wir einen besseren Impfstoff auf den Markt, der noch dazu billiger ist! Denn die Forscher, die Sie im Ausland bezahlen, profitieren von der Arbeit meiner Schüler!
Aber es bringt nichts, sich mit denen anzulegen. Die beauftragen ja sogar ausländische Firmen, den Kreml zu sanieren. Türken bauen unsere Häuser, Italiener heben die Schächte für unsere Metro aus, Ukrainer pflastern die Straße. Deutsche liefern uns das Material, aus dem wir Zahnkronen herstellen, Finnen verkaufen uns Papier. Das nennt sich dann Markteintritt und Globalisierung. Nur würde ich gern wissen, warum wir Serum für hundert Millionen Impfungen aus den USA importieren, statt für dieses Geld hier bei uns ein neues Zentrum zum Kampf gegen das Virus aufzubauen? Aber die Menschen, die das Land bereits jahrzehntelang gemolken haben, haben mal wieder anders entschieden. Wie immer war es ihnen völlig einerlei, dass die arme Milchkuh sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Sie schielen ausschließlich auf das internationale Business, sind auf Auftritte in Talkshows erpicht und arbeiten permanent in ihre eigenen, bodenlosen Taschen. Dabei hätten wir mit all dem Geld Dutzende von Vakzinvarianten testen können.
Vielleicht irre ich mich ja und es gibt bei uns bereits gar keine klugen Köpfe mehr, die in der Lage wären, entsprechende Forschungen zu betreiben. Heute, da unter mir der Boden bebt und Panzer durch die Straßen brettern, ist es vermutlich zu spät, darüber nachzugrübeln. Aber noch vor fünf Jahren wäre Rettung möglich gewesen, das habe ich den Herren damals auch laut und deutlich klargemacht. Und ich war nicht der Einzige. Zu Hunderten haben wir diesen Standpunkt vertreten, nicht nur in Russland, nebenbei bemerkt. Aber wer hört schon auf hundert alte Sturköpfe, wenn das Land eine große Zukunft vor sich hat? Die hatte es ja immer vor sich, diese große Zukunft, schließlich hat es ja auch eine große Vergangenheit. Nur bedauerlich, dass die Gegenwart so enttäuschend ist. Wobei: Heute schmettern die Fanfaren, denn Uncle Sam hebt alle Handelsbeschränkungen auf, das große Land tritt endlich der Eurozone bei und erhält ein paar hübsche Privilegien. Nur hat davon leider niemand etwas … Russland muss dafür übrigens nicht mehr tun, als ein wenig Entgegenkommen zu zeigen und ein paar langfristige Verträge zu unterschreiben!
Wir kaufen ihnen fermentiertes Hühnerfleisch ab und kriechen vor ihnen zu Kreuze, damit sie uns ein bisschen Stahl abnehmen. Wir machen vor Freude Luftsprünge, dass ihr Shuttle auf der Umlaufbahn des Mars’ feststeckt, denn das bringt uns ein paar kleine Aufträge für die Herstellung veralteter Träger
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