Cryptonomicon
holt der Japaner eine Visitenkarte hervor. Randy muss die Brieftasche mit Klettverschluss aufreißen und nach seiner graben. Sie tauschen die Karten im traditionellen asiatischen Zwei-Hand-Stil aus, den Avi Randy hat üben lassen, bis er ihn annähernd beherrschte. Sie verbeugen sich voreinander, womit sie ein Aufheulen bei den nächstgelegenen computergesteuerten Pissoirs mit automatischer Spülung hervorrufen. Die Toilettentür fliegt auf und ein älterer Nip schlendert herein, ein Vorbote der silbergrauen Horde.
Nip ist das Wort, das Sergeant Sean Daniel McGee, US Army, im Ruhestand, in seinem Kriegstagebuch über Kinakuta, von dem Randy eine fotokopierte Fassung in seiner Reisetasche hat, benutzt, wenn er von Japanern spricht. Es ist eine schreckliche rassistische Verunglimpfung. Auf der anderen Seite nennt man in Amerika Briten ständig Brits und Yankees Yanks. Einen Mann aus dem Reich Nippon Nip zu nennen ist doch genau das Gleiche, oder etwa nicht? Oder ist es eher so, wie wenn man einen Chinesen Schlitzauge nennt? Während der aberhundert Meetingstunden und in den Megabytes verschlüsselter E-Mails, die in der Anfangsphase von Epiphyte(2) zwischen Randy, Avi, John Cantrell, Tom Howard, Eberhard Föhr und Beryl hin- und hergingen, hat jeder von ihnen immer wieder mal ohne Absicht das Wort Japse als Kurzform für Japaner benutzt – genau wie RAM als Kürzel für Random Access Memory. Aber Japse ist natürlich auch ein schrecklich verunglimpfender, rassistischer Ausdruck. Nach Randys Meinung kommt es ganz auf die Geisteshaltung an, mit der man das Wort ausspricht.Versucht man einfach nur abzukürzen, ist es keine Diffamierung. Schürt man jedoch rassistische Hassgefühle, wie Sean Daniel McGee es sich offenbar gelegentlich nicht verkneifen kann, sieht es anders aus.
Dieser spezielle Japaner wird durch seine Karte als GOTO Furudenendu (»Ferdinand Goto«) ausgewiesen. Randy, der in letzter Zeit viel über Organigrammen bedeutender japanischer Firmen gebrütet hat, weiß bereits, dass er Direktor für besondere Projekte (was immer das bedeuten mag) bei Goto Engineering ist. Er weiß auch, dass Organigramme japanischer Gesellschaften für die Katz sind und ihre hierarchischen Bezeichnungen absolut nichts bedeuten. Dass er denselben Nachnamen trägt wie der Typ, der die Firma gegründet hat, sollte man vermutlich zur Kenntnis nehmen.
Auf Randys Karte steht, dass er Randall L. WATERHOUSE (»Randy«) heißt und Direktor für die Entwicklung der Netzwerktechnologie in der Epiphyte Corporation ist.
Goto und Waterhouse schlendern aus der Toilette und folgen den Piktogrammen für die Gepäckausgabe, die wie Brotkrumen über das ganze Terminal verteilt sind. »Haben Sie jetzt Jetlag?«, fragt Goto fröhlich – womit er sich (wie Randy vermutet) an den Text eines Englischlehrbuchs hält. Er ist ein gut aussehender Mann mit einem gewinnenden Lächeln. Dürfte in den Vierzigern sein, obwohl das Altern bei den Japanern nach einem ganz anderen Algorithmus zu funktionieren scheint, sodass diese Schätzung vielleicht völlig daneben liegt.
»Nein«, erwidert Randy. Als typischer Nerd beantwortet er solche Fragen unbeholfen, knapp und wahrheitsgetreu. Er weiß, dass es Goto im Grunde gleichgültig ist, ob er unter Jetlag leidet oder nicht. Er hat die vage Vorstellung, dass Avi, wenn er hier wäre, Gotos Frage so aufnehmen würde, wie sie gemeint war – als Auftakt zu einem munteren Geplauder. Bis zu seinem dreißigsten Geburtstag hatte Randy darunter gelitten, dass er im gesellschaftlichen Umgang so ungeschickt war. Jetzt ist ihm das völlig egal. Nicht mehr lange, dann wird er vermutlich stolz darauf sein. Bis dahin versucht er zum Wohl des gemeinsamen Unternehmens sein Bestes. »Ich bin für ein paar Tage in Manila gewesen, sodass ich genügend Zeit hatte, mich umzustellen.«
»Ah ja. Waren Sie in Manila erfolgreich?«, gibt Goto zurück.
»Ja, sehr, danke«, lügt Randy, jetzt, wo seine bescheidenen gesellschaftlichen Fähigkeiten kurz durchscheinen durften. »Sind Sie direkt aus Tokio gekommen?«
Gotos Lächeln erstarrt für einen Augenblick und er zögert, bevor er antwortet: »Ja.«
Das ist im Prinzip eine herablassende Antwort. Goto Engineering hat seinen Sitz in Kobe und er würde nie vom Tokioter Flughafen aus fliegen. Dennoch hat Goto die Frage bejaht, weil ihm in diesem Augenblick des Zögerns aufgegangen ist, dass er es hier mit einem Yank zu tun hat, der, wenn er »Tokio« sagt, eigentlich »die
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