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Cryptonomicon

Cryptonomicon

Titel: Cryptonomicon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Runde gehen. Der Kerl in der Ecke gab kurze Wortsalven von sich, die er aus einem Notizbuch ablas. Er sagte jeweils zehn bis zwanzig Worte, worauf die wenigen Zuhörer sich einander zuwandten, grinsten, ein Gesicht zogen oder manchmal auch Beifall klatschten. Er trug seinen Kram nicht wie einen schmutzigen Witz vor. Er sprach präzise und mit Ausdruck.
    Ach du Scheiße! Er las Gedichte vor! Shaftoe hatte keine Ahnung, was der Mann sagte, aber er konnte am Klang erkennen, dass es Gedichte sein mussten. Reimen tat sich’s allerdings nicht. Aber die Nips machten ja alles auf komische Art.
    Er bemerkte, dass der Koch ihn anfunkelte. Er räusperte sich, was sinnlos war, weil er überhaupt kein Japanisch sprach. Er betrachtete etwas von dem rubinroten Fisch hinterm Tresen, deutete darauf, hielt zwei Finger hoch.
    Alles war verblüfft darüber, dass der Amerikaner tatsächlich etwas bestellt hatte. Die Spannung ließ nach, allerdings nur ein wenig. Der Koch machte sich an die Arbeit und produzierte zwei Häppchen, die er auf einem dicken Holzbrettchen servierte.
    Shaftoe war dazu ausgebildet worden, Insekten zu essen und Hühnern den Kopf abzubeißen, und so ging er davon aus, dass er damit fertigwerden konnte. Er nahm die Häppchen mit den Fingern auf, genau wie die Nips es taten, und aß sie. Sie schmeckten gut. Er bestellte zwei weitere von anderer Art. Der Kerl in der Ecke las weiter Gedichte vor. Shaftoe aß seine Häppchen und bestellte noch mehr. Etwa zehn Sekunden lang fühlte er sich hier zwischen dem Geschmack des Fisches und dem Klang der Gedichte tatsächlich wohl und vergaß, dass er lediglich dabei war, einen brutalen Rassenkonflikt anzuzetteln.
    Die dritte Portion sah anders aus: Auf den rohen Fisch waren dünne, durchscheinende Scheiben irgendeines feuchten, glänzenden Materials gelegt. Das Zeug erinnerte an in Öl getränktes Fleischeinwickelpapier. Shaftoe glotzte es eine Zeit lang an und versuchte, es zu identifizieren, aber es ähnelte keinem Nahrungsmittel, das er kannte. Er schaute rasch nach links und rechts, in der Hoffnung, dass einer der Nips das Gleiche bestellt hatte, sodass er zusehen und lernen konnte, wie man es richtig aß. Kein Glück.
    Verdammt, immerhin waren das Offiziere. Vielleicht sprach einer davon ein bisschen Englisch.
    »’zeihung. Was ist das?«, fragte Shaftoe und hob die unheimliche Membran an einer Ecke an.
    Der Koch blickte nervös zu ihm auf, ließ dann den Blick am Tresen entlangwandern und befragte die Gäste. Es folgte eine Diskussion. Schließlich erhob sich am Ende des Tresens ein Nip-Offizier, ein Lieutenant zur See, und sprach Bobby Shaftoe an.
    »Seegras.«
    Der Ton des Lieutenants – feindselig und mürrisch – passte Shaftoe nicht. In Verbindung mit dem Gesichtsausdruck schien er zu besagen: Das kapierst du sowieso nicht, du Bauer, also stell dir einfach vor, es wäre Seegras.
    Shaftoe faltete züchtig die Hände im Schoß, betrachtete ein paar Augenblicke lang das Seegras und blickte dann zu dem Lieutenant auf, der ihn immer noch ausdruckslos ansah. »Was für eine Art von Seegras, Sir?«, fragte er.
    Angelegentliche Blicke begannen durch das Lokal zu huschen wie optische Signale vor einem Seegefecht. Die Dichterlesung war offenbar zu Ende, und hinten im Raum hatte eine Wanderbewegung gemeiner Soldaten eingesetzt. Unterdessen übersetzte der Lieutenant Shaftoes Nachfrage für die anderen, die sie ausführlich diskutierten, als handele es sich um eine wichtige politische Initiative von Franklin Delano Roosevelt.
    Der Lieutenant und der Koch wechselten Worte. Dann sah der Lieutenant erneut Shaftoe an. »Er sagt, Sie jetzt zahlen.« Der Koch hielt eine Hand hoch und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.
    Ein Jahr Dienst bei der Yangtze River Patrol hatte Bobby Shaftoe Nerven aus Titan und unbegrenztes Vertrauen in seine Kameraden verschafft, und so widerstand er dem Drang, den Kopf zu drehen und zum Fenster hinauszuschauen. Er wusste bereits genau, was er sehen würde. Marines, Schulter an Schulter, bereit, für ihn zu sterben. Er kratzte sich die neue Tätowierung auf seinem Unterarm: ein Drache. Seine über den frischen Schorf schrappenden, schmutzigen Fingernägel machten ein schabendes Geräusch in dem vollkommen stillen Restaurant.
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte Shaftoe und er sprach die Worte mit der typischen Präzision des Betrunkenen aus.
    Der Lieutenant übersetzte das ins Japanische. Erneut Diskussionen, diesmal allerdings knapp

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