Cryptonomicon
Telefonstecker herausgezogen. Randall Lawrence Waterhouse liegt nackt auf den gestärkten, aufgeschlagenen Laken seines King-size-Betts. Sein Kopf lehnt so an einem Kissen, dass er durch das V seiner Füße die Nachrichtensendung des BBC World Service mitbekommt. Ein Zehn-Dollar-Bier aus der Minibar steht in Reichweite. In Amerika ist es jetzt sechs Uhr und deshalb muss er sich, statt ein Profi-Basketballspiel anzuschauen, wohl mit diesen stark auf Ereignisse in Südasien ausgerichteten BBC-Nachrichten begnügen. Einem langen, sehr nüchternen Bericht über eine Heuschreckenplage an der indisch-pakistanischen Grenze folgt ein anderer über einen Taifun, der kurz davor ist,
Hongkong zu erreichen. Der König von Thailand bestellt einige seiner korrupteren Regierungsbeamten ein, damit sie sich buchstäblich vor ihm in den Staub werfen. Asiatische Nachrichtensendungen haben immer so etwas Skurriles an sich, obwohl alles todernst daherkommt, ohne ein Wimpernzucken oder ein Augenzwinkern. Jetzt sieht er gerade einen Bericht über eine Nervenkrankheit, die Leute in Neuguinea nach dem Genuss menschlicher Gehirne befällt. Die ganz elementare Kannibalengeschichte. Kein Wunder, dass so viele Amerikaner geschäftlich hierher kommen und nie wieder so richtig nach Hause zurückkehren – es ist, als beträte man die Seiten eines Hefts aus der Classics-Comics- Reihe.
Es klopft an der Tür. Randy steht auf und zieht seinen flauschigen weißen Hotelbademantel an. Er späht durch den Spion, halb in der Erwartung, draußen einen Pygmäen mit einem Blasrohr stehen zu sehen, obwohl eine verführerische orientalische Kurtisane auch nicht zu verachten gewesen wäre. Doch es ist nur Cantrell. Randy öffnet die Tür. In einer munteren »Bin ja schon ruhig«-Geste nimmt Cantrell gleich die Hände hoch. »Keine Bange«, sagt er, »ich bin nicht da, um über Geschäftliches zu reden.
»In diesem Fall werde ich die Bierflasche hier nicht auf deinem Kopf zerschlagen«, sagt Randy. Cantrell muss dasselbe Gefühl haben wie Randy, nämlich dass an diesem Tag so viele verrückte Sachen passiert sind, dass der einzige Weg, damit klarzukommen, darin besteht, gar nicht darüber zu sprechen. Den größten Teil seiner Arbeit leistet das Gehirn, während sein Besitzer scheinbar an etwas anderes denkt; das heißt, manchmal muss man bewusst etwas anderes finden, über das man nachdenkt und spricht.
»Komm in mein Zimmer«, sagt Cantrell. »Pekka ist hier.«
»Der Finne, der in die Luft geflogen ist?«
»Genau der.«
»Warum ist er hier?«
»Weil er keinen Grund hat, nicht hier zu sein. Nachdem er in die Luft geflogen ist, hat er die Lebensweise eines Technomaden angenommen.«
»Es ist also nur ein Zufall, oder -«
»Nein«, sagt Cantrell. »Er hilft mir, eine Wette zu gewinnen.«
»Was für eine Wette?«
»Vor ein paar Wochen habe ich Tom Howard vom Van-Eck-Phreaking erzählt. Darauf meinte er, das höre sich alles nach Schwachsinn an. Er hat mit mir um zehn Anteile an Epiphyte gewettet, dass ich es außerhalb eines Labors nicht zum Funktionieren bringen würde.«
»Ist Pekka gut in solchen Sachen?«
Statt die Frage zu bejahen, setzt Cantrell eine ernste Miene auf und sagt: »Pekka schreibt gerade ein ganzes Kapitel darüber für das Cryptonomicon. Er glaubt, dass wir uns nur dann wehren können, wenn wir die Technologien, die gegen uns verwendet werden könnten, beherrschen.«
Das klingt fast wie ein Ruf zu den Waffen. Randy wäre eine ziemliche Flasche, wenn er sich jetzt in sein Bett verdrücken würde; also geht er ins Zimmer zurück und steigt in seine Hose, die, teleskopartig zusammengesunken, dort steht, wo er sie nach seiner Rückkehr aus dem Palast des Sultans hat fallen lassen. Der Palast des Sultans! Jetzt zeigen sie im Fernsehen einen Bericht über Piraten, die im Südchinesischen Meer kreuzen und Schiffsbesatzungen zwingen, über die Planke zu gehen. »Dieser ganze Kontinent kommt mir vor wie Disneyland ohne die Sicherheitsvorkehrungen«, bemerkt Randy. »Bin ich der Einzige, der das grotesk findet?«
Cantrell grinst, sagt aber: »Wenn wir anfangen, über Groteskes zu reden, enden wir doch damit, dass wir über den heutigen Tag sprechen.«
»Da hast du Recht«, sagt Randy. »Lass uns gehen.«
Bevor Pekka rund ums Silicon Valley als der Finne, der in die Luft geflogen ist, bekannt wurde, hieß er nur der Cello-Typ, weil er eine nahezu autistische Zuneigung zu seinem Cello hegte, es überallhin mitnahm und immer
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